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Der längste Aufschwung aller Zeiten

Wie lange dauert der Konjunkturzyklus noch an? Bild: Pixabay
Wie lange dauert der Konjunkturzyklus noch an? Bild: Pixabay

Die US-Wirtschaft nähert sich einer neuen Rekordmarke, die sie im Juni erreichen kann: Dem mit zehn Jahren längsten Aufschwung aller Zeiten. Der Invesco-Chefökonom John Greenwood sieht noch kein Ende des Konjunkturzyklus und weiteres Aufwärtspotenzial für Risikoanlagen.

15.05.2019, 14:31 Uhr

Redaktion: rem

Obwohl sich die Aktienmärkte in den USA und andernorts in diesem Jahr kräftig erholt haben, sind die Rezessionsängste, die Ende 2018 aufgekommen sind, noch nicht gebannt. Unterdessen steuert die US-Wirtschaft auf den längsten Aufschwung aller Zeiten zu, der im Juni mit zehn Jahren erreicht wäre. Invesco-Chefökonom John Greenwood ist dennoch überzeugt, dass die US-Wirtschaft – und die stark vom Konjunkturzyklus in den USA abhängigen Volkswirtschaften – noch mehrere weitere Jahre wachsen können.

"Der neben dem besseren Zustand der Bilanzen der US-amerikanischen Finanzinstitute und Privathaushalte wichtigste Faktor ist, dass die Inflation weiterhin unter 2% liegt. Damit hat die Fed keinen Grund, die Geldpolitik so stark zu straffen, dass sie den Aufschwung in absehbarer Zeit abwürgen könnte», schreibt Greenwood in seinem vierteljährlichen Markt- und Wirtschaftsausblick für Q2 2019. "Das wiederum heisst auch, dass die Kurse von Risikoanlagen - Aktien, Immobilien oder Rohstoffen – bis zum Ende des aktuellen Aufschwungs noch weiter steigen könnten. Solange der Konjunkturaufschwung andauert, würde eine deutliche Abweichung der Anlagemärkte vom fundamentalen Profil des Konjunkturzyklus eine historische Premiere darstellen.»

Falsche Inflationsprognosen

Greenwood weist auf die zahlreichen Prognostiker hin, die behauptet haben und immer noch behaupten, dass die Inflation in Folge hoher Haushaltsdefizite und Staatsschulden oder engerer Arbeitsmärkte irgendwann wieder anziehen und den Aufschwung früher oder später zum Erliegen bringen werde. Tatsächlich sind die Inflationsraten in den meisten Industrie- und vielen Schwellenländern aber tief geblieben, wie der Chefökonom von Invesco in den vergangenen zehn Jahren richtig prognostiziert hat. Der Grund:

"Die Prognostiker haben die eigentliche Ursache der Inflation unberücksichtigt gelassen – das exzessive Geld- und Kreditwachstum, von dem in den Industrieländern in den letzten zehn Jahren nichts zu sehen war."

Wie Greenwood weiter erläutert, sind ein zu starkes Geldmengenwachstum und/oder eine exzessive Verschuldung die zwei wichtigsten fundamentalen Auslöser von Rezessionen. Wenn die Geldmenge und die Kredite weiter moderat wachsen und die Inflation niedrig bleibt, müssten die Zentralbanken die geldpolitischen Zügel demnach nicht so stark anziehen, dass sie damit eine Rezession riskieren. Solange es nicht zu einer massiven Überschuldung kommt – wie in den Jahren 2003 bis 2008 –, sieht der Experte auch keinen Grund zur Sorge über einen gravierenden Finanzunfall wie die Insolvenz von Lehman Brothers, die zur Kreditklemme und dem Einbruch der Ausgaben und damit des BIP in den Jahren 2008 bis 2009 führte.

Im Nachgang der globalen Finanzkrise sei in den USA, der Eurozone, Japan und Grossbritannien eine umfangreiche Staatsverschuldung an die Stelle der Kreditaufnahme des privaten Sektors getreten. Dadurch habe der private Sektor in unterschiedlichem Masse Schulden abgebaut, wodurch das Geldmengenwachstum und damit auch die Inflation niedrig geblieben seien. Solange das Geldmengenwachstum im Einklang mit einer niedrigen Inflation stehe, könne eine Wirtschaft ihr Potenzialwachstum erreichen oder fast erreichen und eine niedrige Arbeitslosigkeit aufweisen, ohne dass es zu einem starken Anstieg der Inflation komme, erklärt Greenwood. "Eine höhere Inflation, steigende Zinsen und ein Kurseinbruch an den Kapitalmärkten sind nicht unvermeidlich – zumindest nicht auf Sicht der nächsten zwei oder drei Jahre", meint Greenwood, der die US-Wirtschaft derzeit eher in einer mittzyklischen als in einer spätzyklischen Phase sieht.

Bescheidene Wachstumsprognose für die Eurozone

Seiner Ansicht nach stellen die Zinserhöhungen der US-amerikanischen Notenbank (Fed), die in Verbindung mit dem Abschwung im verarbeitenden Gewerbe 2018 bei einigen Investoren Alarmglocken ausgelöst haben, eine Normalisierung und nicht eine Straffung der Geldpolitik dar – vergleichbar mit den mittzyklischen Korrekturen der Jahre 1994 bis 1995 oder 2004 bis 2005. In beiden Fällen habe sich der Aufschwung nach den Zinserhöhungen noch mehrere Jahre fortgesetzt. Auch die jüngste Inversion der Zinsstrukturkurve in den USA hält Greenwood für unbedenklich und für ein Symptom einer Verschiebung von Angebot und Nachfrage an den Kreditmärkten.

"Eine invertierte Zinsstrukturkurve ist gewöhnlich nur dann ein Vorbote einer Rezession, wenn sie ein Symptom restriktiverer monetärer Bedingungen ist."

Der Ökonom geht davon aus, dass die US-Wirtschaft 2019 mit einer realen Rate von 2,6% wachsen wird. Seine Wachstumsprognose für die Eurozone ist mit einem erwarteten realen BIP-Wachstum von 1,4% für 2019 deutlich bescheidener, da der 2018 verzeichnete Abschwung im verarbeitenden Gewerbe hier weiter spürbar ist. Fraglich sei, ob dieser sich als vorübergehende Schwächephase erweisen werde oder symptomatisch für ein gesamtwirtschaftliches Nachfragedefizit sei. Wie Greenwood erklärt, sind die Gesamtausgaben für Güter und Dienstleistungen durch das schwache Geldmengenwachstum gedämpft worden. Das Problem sei weiterhin, dass die Banken im Euroraum so lange risikoscheu und zurückhaltend mit Krediten bleiben würden, wie ihre Bilanzgesundung noch nicht vollständig abgeschlossen sei. Ohne die positiven Impulse der EZB-Anleihekäufe hält Greenwood es daher für sehr wahrscheinlich, dass das Wachstum der breiten Geldmenge weiter nachlassen und einer potenziellen Erholung entgegenstehen werde.

In Grossbritannien führt die Brexit-bedingte Verunsicherung weiterhin zu Zurückhaltung bei der Bankkreditvergabe und den Investitionen. Die Verunsicherung über den Ausgang der zähen Brexit-Verhandlungen in London und Brüssel hat das Konsum- und Geschäftsklima und damit auch das gesamtwirtschaftliche Ausgabenwachstum massiv geschwächt. Daher prognostiziert Greenwood für Grossbritannien 2019 auch nur ein reales BIP-Wachstum von 1,3%. Damit würde die britische Wirtschaft deutlich hinter ihrem langfristigen Potenzialwachstum zurückbleiben.

China mit scheinbar widersprüchlichen Strategien

Unterdessen steht China vor der Herausforderung, Schulden abzubauen und zugleich das Wachstum aufrechtzuerhalten. Die hohen Schulden, die die staatseigenen Unternehmen und Teile des Finanzsektors in China über sieben bis acht Jahre angehäuft haben, haben das Wachstum in diesen Sektoren in den vergangenen zwei Jahren gedämpft. Wie Greenwood erklärt, können sie jetzt nicht mehr so sorglos Schulden aufnehmen und investieren wie zuvor. Aus Angst vor möglichen sozialen Unruhen wollen die chinesische Zentralbank (PBoC) und andere chinesische Behörden aber auch keine zu starke Wachstumsverlangsamung zulassen.

"Dadurch ist China in den letzten rund zwölf Monaten von der zuvor klaren – entweder expansiven oder restriktiven – Ausrichtung seiner Geld- und Fiskalpolitik zu einem scheinbar widersprüchlichen Bündel von Strategien übergegangen. Dieses umfasst eine Beschränkung der Kreditvergabe im Schattenbankensystem und makroprudentielle Kontrollen der Hypothekenvergabe genauso wie eine Lockerung der Zinsen und eine Senkung der Mindestreservevorgaben für Banken", so Greenwood. Kurzfristig rechnet er dadurch mit einer weiteren Abschwächung der Wachstumsdynamik und einem deutlichen Rückgang der ausgewiesenen Inflation. Der Invesco-Chefökonom erwartet in China im Gesamtjahr 2019 ein reales BIP-Wachstum von 6,3%.

Mit einer prognostizierten Rate von 0,9% werde das japanische BIP-Wachstum in diesem Jahr weiter durch die Risikoaversion der Kreditgeber und die Zurückhaltung der Kreditnehmer in Bezug auf die Aufnahme neuer Schulden in einem sehr wachstumsschwachen Umfeld belastet, meint Greenwood. Anstatt das benötigte Geldwachstum selbst zu schaffen, indem sie Wertpapiere von Nicht-Banken ankaufe und diese mit neuen Einlagen bezahlt, habe sich die japanische Notenbank mit ihrem Assetkaufprogramm auf die Banken konzentriert. In der Folge habe sich die Zentralbank auf die Bereitschaft der risikoscheuen Banken verlassen müssen, die Kreditvergabe und damit das breite Geldmengenwachstum zu erhöhen. "Hätte sie japanische Staatsanleihen von Unternehmen ausserhalb des Bankwesens oder privaten Haushalten angekauft, wären die Einlagen und die Geldbasis im japanischen Bankensystem inzwischen deutlich höher und die Inflationsrate läge bei mindestens 2%», so Greenwood.

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