"Diese Krise ist so schwer einzuschätzen, weil sie beispiellos ist"

Benjamin Melman, Global CIO Asset Management bei Edmond de Rothschild
Benjamin Melman, Global CIO Asset Management bei Edmond de Rothschild

Die derzeitige Corona-Krise und ihre wirtschaftlichen Folgen sind laut Edmond de Rothschild beispiellos. Noch nie war die Welt in einer Situation, in der die Wirtschaft ohne Finanzkrise auf unbestimmte Zeit still gelegt wurde. Gerade deshalb ist der monetäre Preis, den das Virus von der Wirtschaft fordern wird, kaum abzuschätzen.

20.03.2020, 05:00 Uhr
Finanzplätze

Redaktion: lek

In der letzten Woche haben die Märkte Handelstage mit schwindelerregenden Einbrüchen inmitten eines chaotischen Handels erlebt. Am 12. März stürzten die meisten Aktienmärkte um mehr als 10% ab, und selbst sichere Häfen wie 30-jährige US-Treasuries verloren mehr als 1%. Gold beendete den Tag mit einem Minus von fast 3%. Es war, als ob die traditionelle Marktlogik durch unkontrollierte Verkäufe beiseite gefegt wurde, da Portfolios wie Risikoparitätsfonds versuchten, die Risikoanlagen zu reduzieren. Die Kapitulation, ähnlich wie der Ausverkauf nach dem Zusammenbruch von Lehman Brothers, veranlasste laut Benjamin Melman, Global CIO Asset Management bei Edmond de Rothschild, Währungshüter und Regierungen zu zum Teil weitreichenden Entscheidungen. Die Fed ist ein Beispiel dafür. Aber die Märkte wiesen diese Schritte zurück - eine überraschende Reaktion angesichts des fast ununterbrochenen Anstiegs der Preise für Risikoanlagen, nachdem die Fed ihre Bilanz erneut ausweitete, findet Melman.

Auswirkungen der Krise nicht abzuschätzen

"Diese Krise ist so schwer einzuschätzen, weil sie beispiellos ist. Die Welt war noch nie in einer Situation, in der Volkswirtschaften ohne eine Finanzkrise plötzlich für eine unbestimmte Zeit stillgelegt werden. Wie wird sich die Wirtschaftstätigkeit während des Stillstands entwickeln? Wie lange wird es dauern, bis wieder normale Bedingungen herrschen, nachdem die Wirtschaft wieder in Gang gekommen ist? Werden die Grenzen zwischen Ländern mit unterschiedlicher Gesundheitspolitik geschlossen bleiben?", fragt sich Melman. Zum jetzigen Zeitpunkt sei es schwierig, diese Fragen der Intensität und Dauer abzuschätzen, so dass die Märkte nicht in der Lage seien, sich zu stabilisieren.

Krise ist von begrenzter Dauer

Die letzten zwei Wochen in Asien lassen vermuten, dass die Abriegelung von Regionen zwar enorme wirtschaftliche Kosten mit sich bringt, aber tatsächlich funktioniert. Melman meint: "Die allmähliche Erholung der chinesischen Aktivitäten zeigt, dass die Krise zwar ernst, aber nur von begrenzter Dauer sein kann. Der grösste Teil Europas folgt mittlwerweile dem Beispiel Asiens – auch wenn Deutschland weit weniger Vorkehrungen trifft als Italien, Frankreich und Spanien –, so dass die Hoffnung besteht, dass die Epidemie im April ihren Höhepunkt erreicht." Aber im Moment scheinen nach Meinung des Experten die beiden zwei G7-Länder USA und Grossbritannien einen anderen Weg einzuschlagen. "Wir kennen keine vergleichbaren Vorfälle, so dass es – wenn beide Länder weiterhin auf einen Lockdown verzichten – äusserst schwierig sein wird, die Dauer der Krise und ihre Gesamtkosten abzuschätzen."

Der Mangel an internationaler wirtschaftspolitischer Koordination zur Bewältigung der Krise ist viel kritisiert worden. Aber das Versagen der Länder bei der Koordinierung der Gesundheitspolitik ist für Melman viel schlimmer. Die Kosten dieser Krise für Europa sind ungewiss, aber die nachfolgende Periode folgt nicht unbedingt dem traditionellen Back-to-Business-Trend. Die aktuellen Bewertungen würden diese Unsicherheiten widerspiegeln, gibt der CIO zu bedenken.

Nichtsdestotrotz sieht Melman auch einige positive Aspekte, auch wenn die Krise weiter rollt:

  • Die Märkte haben bereits zwei Kapitulationsrunden hinter sich.
  • Währungsbehörden und Regierungen haben massive Massnahmen eingeleitet. Die EZB ist die letzte, die mit einem gigantischen Paket von 750 Milliarden Euro nachzieht. Diese Massnahmen werden nicht nur viele kurzfristige Konkurse vermeiden, sondern dürften auch die Erholung nach dem Lockdown beschleunigen.
  • Wir haben allmählich genügend Daten über die Auswirkungen des Lockdown. In einigen Regionen ist die Epidemie am Abklingen.
  • Die Marktbewertungen sind wieder auf einem attraktiven Niveau.

Es braucht Geduld

Was noch fehlt, ist eine bessere Sichtbarkeit, wie lange die Krise noch andauern könnte. "Dies ist für uns der entscheidende Faktor. Ein wichtiger Wendepunkt könnte sich dadurch ergeben, dass die USA mit der Einführung von Lockdown-Massnahmen beginnen. Donald Trump scheint sich dagegen zu wehren, aber seine Haltung ist nicht in Stein gemeisselt. Erst letzte Woche war er skeptisch gegenüber
einem Konjunkturplan, bevor er seine Haltung änderte und erklärte, er sei bereit, dem Kongress ein Paket in Höhe von 1 Billion Dollar, also 6% des BIP, vorzuschlagen."

Die Krise hat alle überrascht, gerade weil sie beispiellos ist. Die sanitären und wirtschaftlichen Massnahmen wirkten daher laut dem Experten improvisiert und/oder langsam. Aber das Ausmass der Krise wurde nun voll und ganz erkannt, und die Behörden holen bei den Bemühungen um eine effiziente Lösung rasch auf. Melman sagt: "Die Dinge ändern sich schnell, und alles könnte passieren. Die Dynamik der Epidemie und eine etwaige Konvergenz in der Gesundheitspolitik werden unser Hauptaugenmerk bei der Gestaltung künftiger Entscheidungen über die Vermögensallokation sein. In der Zwischenzeit behalten wir unsere ausgewogene Aktienallokation bei und sind bei Krediten nach wie vor untergewichtet."

Philippe Lomné (links) und Emmanuel Petit, Manager des R-co Conviction Credit Euro

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