Deflationsängste halten Europa fest im Griff

Mikio Kumada, Global Strategist bei LGT Capital Partners
Mikio Kumada, Global Strategist bei LGT Capital Partners

Es lasten deflationäre Risiken auf Europa – und es könnte eine Weile brauchen, bis der Markt mehr Vertrauen in die jüngsten EZB-Massnahmen fasst. Mikio Kumado von LGT erklärt warum.

29.10.2014, 10:22 Uhr

Redaktion: kgh

Die jüngste Aktienerholung war die stärkste seit Beginn der «Operation Twist» vor gut drei Jahren. Im Sommer 2011 waren Zweifel an der Wirksamkeit der US-Geldpolitik noch weit verbreitet und in Europa tobte die «Eurokrise», doch der S&P 500 notiert inzwischen beinahe doppelt so hoch wie damals. Heute lasten deflationäre Risiken auf Europa – und es könnte eine Weile brauchen, bis der Markt mehr Vertrauen in die jüngsten EZB-Massnahmen fasst.

Mit fortschreitender Berichtssaison scheinen sich manche Angelerängste wieder in Luft aufzulösen. Seit dem Tiefpunkt des grossen Ausverkaufs vom 15. Oktober hat sich S&P 500 um 9% erholt. Der EuroStoxx hat sich seit seinem Tiefpunkt am Tag danach sogar um 9.5% erholt. Wir erleben in den westlichen Märkten also die kräftigste Erholung von einer Korrektur seit Oktober 2011.

Die letzte grosse Korrektur verpuffte nach einigen Monaten
Erinnern wir uns kurz an den Sommer 2011 zurück: In Washington herrschte das politische Hickhack um die Schuldenpolitik, woraufhin die Rating-Agentur S&P die Kreditwürdigkeit der USA herabstufte. Die Inflationsrate war von rund 1% im November 2010 auf knapp 4% im September 2011 angestiegen, während die Arbeitslosenquote seit Februar 2011 zwischen 9% und 9.2% verharrte. Es sah also nach einer «Stagflation» in den USA aus - steigende Preise bei stagnierendem Wachstum. So verwundert es kaum, dass Zweifel an der Geldpolitik des «Quantitative Easing» («QE») noch vergleichsweise weit verbreitet waren. Auch an politischer Kritik mangelte es nicht: Im US-Kongress gab es sogar Stimmen, die von einer Abschaffung der Federal Reserve sprachen. In Europa hatte sich die Politik nach einem turbulenten Sommer mit zahlreichen Bonitätsherabstufungen von Banken und Staaten auf diverse noch schemenhafte Krisenpläne und ein zweites Griechenland-Paket geeinigt - welches damals weder von Investoren, noch von der betroffenen Bevölkerung gefeiert wurde.

Sinkende Marktbreite als Warnsignal
Auch der technische Ausblick hatte sich eingetrübt. Die «Marktbreite» in den USA, gemessen am Prozentsatz der Aktien, die über ihrem 200-Tage-Durchschnittskurs notierten, war im Lauf des Sommers auf 7% gefallen - dem niedrigsten Stand seit dem Tiefpunkt der Baisse von 2007-2008. Auch wenn sich all diese Sorgen letztlich wieder verflüchtigten (der genannte Prozentsatz notierte im März 2012 wieder bei 70%) blieb die Situation eine Zeit lang doch überdurchschnittlich volatil.

Welchen Weg geht die Europäische Zentralbank?
In mancher Hinsicht ist die Europäische Zentralbank heute in einer ähnlichen Ausgangslage wie seinerzeit die Fed. Im oben beschriebenen kritischen Umfeld hatte die Fed im September 2011 die sogenannte «Operation Twist» lanciert - eine abgeschwächte Alternative zu «QE». Nachdem die Inflationsrate etwa ein Jahr später jedoch wieder von fast 4% auf 1% gesunken war, nahm die Fed wieder die aggressivere «QE»-Politik auf. Ebenso könnte es der EZB ergehen: Ihre jüngsten geldpolitischen Ankündigungen haben enttäuscht, weil sie suggerierten, dass es innerhalb der EZB eine mächtige Minderheit gibt, die sich gegen eine wirklich inflationstolerante Politik stemmt. Damit wirkt die EZB ähnlich anachronistisch wie die Bank of Japan in der ersten Hälfte der 1990er Jahre. Welchen Weg wird die EZB letztlich gehen - den japanischen oder den amerikanischen?

Risiko des Abgleitens in eine Deflation noch nicht gänzlich eingepreist
Die Deflationsangst wirkt für Europa insgesamt übertrieben, denn die Zeiten haben sich geändert: Vor 20 Jahren stand Japan mit seiner Deflation noch alleine da. Heute werden die Geldmengen überall stark ausgeweitet, ohne bislang unüberschaubare Inflationswellen auszulösen. Angesichts der deflationären Potenziale in Europa dürften daher auch überzeugte «QE»-Gegner früher oder später nachgeben. Je früher dies passiert, desto besser für europäische Aktien - insbesondere, wenn die Unternehmensergebnisse in der Region insgesamt positiv überraschen sollten, wie die ersten Indizien aus der aktuellen Berichtssaison anzeigen. Unter dem Strich ist aber noch nicht klar, dass die deflationären Entwicklungen in der Region abgewendet werden können. Daher erscheint uns eine Reduktion der europäischen Aktienquote auf Neutralposition derzeit angebracht. Es könnte noch weiterer Turbulenzen bedürfen, bis die gestiegenen wirtschaftlichen Risiken in Europa vollends eingepreist sind.

Guter Start für die europäische Berichtssaison Q3/2014
Die ersten Indizien aus der europäischen Berichtssaison sind erfreulich. Die Gewinne steigen in fast allen Sektoren stärker als erwartet. Anders als in den USA und zuletzt auch Japan sind die Umsätze in Europa aber immer generell rückläufig, wenn auch nicht im befürchteten Ausmass. Damit wären wir auch schon beim Wachstum: Weil das nominale Bruttoinlandsprodukt die Basis aller Umsätze darstellt, wäre eine inflationsfreundlichere Geldpolitik hilfreich. Solange die Umsätze generell sinken, gehen Gewinnsteigerungen primär auf Spar- und Produktivitätsmassnahmen zurück. Der Fokus auf die Gewinnmargen stellt eine gute Ausgangsbasis dar. Klar ist aber auch, dass die Margen nicht ewig in den Himmel wachsen können. Eine «reflationäre» Geldpolitik würde im Erfolgsfall auch Europa helfen, den Übergang von der «Gesundschrumpfung» zum Wachstum zu schaffen.

Sinkende Marktbreite
Aus technischer hat in den letzten Monaten die Marktbreite abgenommen, was für als ein «bearisches» Warnzeichen gilt. Abgesehen davon, dass «technische» Signale wieder drehen können, relativiert allerdings auch der Blick auf die Geschichte die langfristige Bedeutung dieser Warnung. Das Beispiel des Prozentsatzes der US-Aktien, die unter ihrem 200-Tages-Durchschnittskurs notieren, haben wir bereits auf Seite 1 im PDF erwähnt. 2011 hatte sich dieser Indikator innerhalb einiger Monate wieder normalisiert. Heute kommt als weiteres Warnsignal jedoch auch die relative Schwäche der «Small Caps» hinzu: Der «Small Caps»-Index Russell 2000 befindet sich relativ zum S&P 500 («Large Caps») seit März auf Talfahrt. 2006 folgte auf eine solche Entwicklung tatsächlich eine Baisse. Es kann aber auch ganz anders kommen: So neigten «Small Caps» auch von Juli 1983 bis März 2000 trendmässig zur relativen Schwäche - und gleichzeitig erlebten wir von 1980 bis 2000 die grösste Aktienhausse des vergangenen Jahrhunderts (einschliesslich der Internet-Blase ab Mitte der 1990er Jahre). Dennoch ist es heute letztlich so, dass der technische Ausblick nicht mehr so klar ist, wie noch vor wenigen Monaten.

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