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USA von Neuanfang weiter entfernt als gedacht

Der Wahlausgang dürfte knapper sein als auch an der Börse erwartet. (Bild: Shutterstock.com/bravissimo)
Der Wahlausgang dürfte knapper sein als auch an der Börse erwartet. (Bild: Shutterstock.com/bravissimo)

Wahlkrimi in den USA. Bis zum Endresultat könnte es Tage, wenn nicht Wochen dauern. Nach dem Kursfeuerwerk zum Wochenbeginn verharrten die Anleger zunächst in Lauerstellung. Wenig später nahmen die Börsen bereites wieder Schwung auf. Was halten Anlagestrategen vom Markt? Wie sollen sich Investoren verhalten?

04.11.2020, 17:19 Uhr

Autor: Hanspeter Frey

Für den Chefanlagestrategen des deutschen Fondshauses DWS, Stefan Kreuzkamp – und wahrscheinlich nicht nur für ihn – ist eines klar: Zum zweiten Mal hintereinander hat die US-Präsidentschaftswahl viele Auguren überrascht. Nach aktuellem Stand haben Donald Trump und die Republikaner besser abgeschnitten als erwartet. "Ein Erdrutschsieg der Demokraten scheint vom Tisch", einen Neuanfang werde es demnach nicht geben, meint er. Das dürfte kurzfristig grosse Teile der US-Wirtschaft und Anleger freuen.

Tatsächlich könnte die Steuerkeule, welche die Demokraten in aller Regel schwingen, bei einer Bestätigung der aktuellen Stimmenverhältnisse an Bedrohung verlieren. Doch für viele Unternehmen im Rest der Welt sowie für rund die Hälfte der Amerikaner, wendet Kreuzkamp ein, laufe es eher auf eine Enttäuschung hinaus. Mittelfristig könnte das auch für die Aktienmärkte zu einer Belastung werden, die Fantasie für Veränderungen könnte schwinden. "Allein das Niedrigzinsumfeld scheint weiter sicher zu sein", fügt er an.

Klares Bild erst im nächsten Jahr

Ohne dass die Demokraten zugleich das Weisse Haus und den Kongress kontrollieren, laufe es auf eine Fortsetzung des Status quo hin, also insbesondere keine Rücknahme der Trump'schen Steuerreform. Es würde aber auch heissen, dass die zeitnahe Verabschiedung eines umfangreichen Stimuluspakets unwahrscheinlicher geworden ist. Sollte Trump im Amt bleiben, dürften zudem schwelende Konflikte an Schärfe gewinnen, etwa mit China.

Für eine abschliessende Bewertung ist es allerdings deutlich zu früh. Der DWS-Chefstratege würde bisherige Marktreaktionen denn auch nicht überbewerten. Ein genaues Bild davon, was die neue Administration mit welcher Priorität umsetzen will und umsetzen kann, würden Anleger wohl erst im Laufe des ersten Halbjahres 2021 bekommen. "Wesentliche Treiber der Kapitalmärkte sind aber ohnehin vom Wahlergebnis weitgehend unabhängig. Dazu zählt kurzfristig der weitere Pandemieverlauf und mittelfristig die Zentralbankpolitik". Letztere dürfte weiterhin für ein Niedrigzinsumfeld sorgen und auch sonst alles tun, um die Märkte zu unterstützen. "Das gilt auch ausserhalb Amerikas", hält Kreuzkamp fest.

Risikoanlagen unter Druck

Dass die Demokraten in beiden Häusern im Kongress die Mehrheit erringen, hält auch Paul Brain, Head of Fixed Income von Newton Investment Management, einer Tochter von BNY Mellon IM, für unwahrscheinlich. Die Debatte über ein substantielles Finanzpaket könnte somit US-Staatsanleihen weiterhin Auftrieb geben und Risikoanlagen unter Druck setzen.

"Solange das Ergebnis in der Schwebe bleibt, wird die Volatilität zunehmen. Der Dollar wird weiterhin unter der Unsicherheit leiden und die Renditen der 10-jährigen US-Staatsanleihen werden sinken." Angesichts mangelnder Klarheit sei Geduld gefordert. "Im Portfoliokontext behalten wir vorerst eine neutrale Aktienallokation bei", betont Brain.

Keine "Blaue Welle"

Auch Michael Strobaek, Global Chief Investment Officer der Credit Suisse, schielt auf den Kongress. Die Demokraten scheinen das Repräsentantenhaus verteidigt zu haben. Der Senat ist aber noch immer hart umkämpft. Stand jetzt spreche einiges für zwei Stichwahlen im Januar, sodass das Endergebnis für den Senat noch einige Zeit auf sich warten lassen wird. Bei einem 50:50-Ergebnis wird letztlich der Vizepräsident über alle Gesetzesvorlagen entscheiden. Auch wenn die "blaue Welle" nicht wie von den CS-Strategen vorhergesagt eingetreten ist, so sei sie immer noch möglich. Die Briefwahlstimmen dürften zu einem Grossteil auf Joe Biden entfallen.

Nachdem der VIX-Volatilitätsindikator bereits vor den Wahlen gestiegen war, liegt er nach wie vor im mittleren 30er-Bereich, und aufgrund des unsicheren Wahlausgangs dürfte er erhöht bleiben. "Bis auf Weiteres behalten unsere neutrale Aktienallokation im Portfoliokontext bei", erklärt, und rät Kunden, sich nicht auf einen bestimmten Wahlausgang festzulegen.

Wachstumshoffnungen schwinden

Keith Wade, Chefökonom von Schroders, spricht aus, was wohl eine Vielzahl von Personen weltweit denken: "Wieder einmal hat Donald Trump die Meinungsforscher verwirrt, indem er wichtige Swing-Staaten gewann und die vorhergesagte 'Blaue Welle' zurückwies." Joe Biden könnte immer noch Präsident werden, aber die Hoffnungen der Demokraten auf einen Sieg im Senat würden schwinden. Ein wiederum geteilter Kongress würde für eine Fortsetzung des Stillstands stehen, der in den letzten Monaten die Verabschiedung eines neuen Finanzpakets zur Unterstützung der von Covid-19 angeschlagenen Wirtschaft verhindert hat.

Die Märkte, die begonnen haben, ein bedeutendes Konjunkturpaket zu berücksichtigen, drosselten nun ihre Wachstumserwartungen. Das angedachte Hilfspaket hätte den USA einen Wachstumsbeitrag von einen Prozentpunkt eingetragen. Nun bestehe die Aussicht auf eine Fortsetzung des Status quo. Nicht auszuschliessen seien auch juristische Auseinandersetzungen um die Präsidentschaft. Das wäre ein schlechter Nährboden für Wirtschaft und Märkte. Je länger die Hängepartie anhalte, desto mehr würden Unsicherheit um sich greifen und die Hoffnung auf einen Wachstumsschub ersticken.

Was macht das Fed?

"Die Reaktion der Märkte war bisher ausgesprochen geordnet", bemerkt James Athey, Investment Director von Aberdeen Standard Investments, "es ist zu knapp und zu früh, um zu sagen, in welche Richtung es gehen wird, also ist Sitzen und Warten das Gebot der Stunde." Ein Teil der Ruhe gehe auf die Erwartung zurück, dass die US-Notenbank bei grösser Volatilität schon einschreiten werde. "Aber das Fed wird nicht handeln, wenn die Dinge völlig ruhig bleiben." Die Katze beisst sich also gewissermassen in den Schwanz. Ein knappes Ergebnis setze die Geldhüter allerdings stärker unter Druck.

Einen gespaltenen Kongress, ganz zu schweigen von einem umstrittenen Ergebnis, wertet Athey wie die übrigen Experten als schlechtes Vorzeichen für die Aussichten auf ein neues Konjunkturpaket. Der Mangel an fiskalischen Anreizen werde früher oder später eine Reaktion des Fed erfordern, und das sei beunruhigend. Die Märkte werden immer mehr darauf programmiert, zu wissen, dass die Notenbank beim Anblick von Schwierigkeiten intervenieren wird. "Diese Art von Abhängigkeit ist nicht gesund", betont der Aberdeen-Stratege.

Zykliker unter Druck

Die geringere Wahrscheinlichkeit eines massiven Fiskalstimulus übt Druck auf Aktien aus zyklischen Sektoren aus. Darauf weist Thomas Heller, CIO der Schwyzer Kantonalbank, hin. Auch Titel aus dem Bereich erneuerbare Energien notierten tiefer. Ohne demokratische Mehrheit im Kongress ist nicht mit verstärkter Förderung des Sektors zu rechnen. "Hingegen ist bei einer republikanischen Senatsmehrheit die Wahrscheinlichkeit geringer, dass Massnahmen gegen die hohen Medikamentenpreise ergriffen werden", kommentiert Heller. Pharmaaktien waren gefragt.

Für Anleger lasse sich aus dieser Gemengelage kein Handlungsbedarf ableiten. Die Schwyzer KB ist mit einem Aktienuntergewicht in die US-Wahlen gegangen und wird auf die Hängepartie nicht unmittelbar reagieren. Sie wird die Situation neu beurteilen, wenn mehr Klarheit herrscht. Bis dahin gelte «abwarten und Tee trinken».

Starke Nerven gefragt

Geduld bleibt gefragt, und starke Nerven ebenfalls. Auch Caroline Hilb-Paraskevopoulos, Leiterin Anlagestrategie und Analyse der St.Galler Kantonalbank, rechnet nicht damit, dass bald Klarheit herrscht, zumal Donald Trump angekündigt hat, dass er einen Wahlsieg Joe Bidens nicht akzeptieren würde. "Es bleibt ein Kopf an Kopf Rennen, und je enger das Rennen ist, desto länger dürfte das Resultat auf sich warten lassen", sagt Hilb.

Für Sébastien Galy, Senior Macro Strategist von Nordea Asset Management, wäre eine Biden-Regierung eine, bei der man eine ziemlich gute Vorstellung habe, was sie tun würde. Aber auch mit einem Verbleib von Donald Trump im Weissen Haus könnte Galy gut leben. "Eine Trump-Regierung wäre eine, die wir recht gut verstehen." Der Markt zögere zwischen diesen beiden zögert. "Das bedeute kurzfristige Volatilität und legt uns nahe, geduldig zu sein und die Daten abzuwarten, bis wir Klarheit darüber haben, wer der nächste US-Präsident sein wird."

Politik nicht überbewerten

Eines darf bei all den Meinungen und Reaktionen nicht vergessen werden: Politische Börsen haben kurze Beine. So lautet eine alte Börsenregel. An sie erinnern die Einschätzung von Oliver Blackbourn, Portfolio Manager Multi-Asset von Janus Henderson Investors. Wichtiger für die Ausrichtung von Aktien und festverzinslichen Wertpapieren seien der Weg der Fiskal- und Geldpolitik, die Weiterentwicklung von Covid-19 und das Wirtschaftswachstum, betont er in seiner Kurzanalyse. Kurzfristige Marktreaktionen sollten nicht als Indikatoren für langfristige Trends angesehen werden.

Seinem Credo stimmen im Grunde auch die anderen Strategen zu, und erfahrene Anleger wissen es ebenso: Am Schluss sind die Fundamentaldaten wie Gewinnwachstum und Zinsen, die den Märkten die Richtung vorgeben.

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