13.06.2024, 13:55 Uhr
Diese Art der Hilfe für die Ukraine hat eine neue Qualität. Bis Ende des Jahres soll das von Russland angegriffene Land auf einen Kredit in Höhe von etwa 50 Milliarden US-Dollar zurückgreifen können - auch für...
Die Ukraine gehört zu den weltweit grössten Exporteuren von Weizen, Ölsaaten und anderen Agrarprodukten. Durch den Krieg könnte das Erntevolumen um 30 bis 40 Prozent zurückgehen. Weitreichende Versorgungsengpässe sind nicht auszuschliessen. Aktien aus dem Agrarsektor rücken in den Fokus.
Ukraine ist ein Land mit 33 Millionen Hektar Ackerfläche – im Vergleich zu Deutschland 11,6 Millionen Hektar. Spätestens seit dem Einmarsch der russischen Truppen in der Ukraine herrscht an den internationalen Agrarmärkten grosse Unsicherheit. Vor allem der Weizenpreis stieg in den ersten Tagen nach der Invasion nennenswert an. "Dies ist nicht verwunderlich, denn die Ukraine und Russland repräsentieren rund 28% der globalen Weizenexporte. Angesichts der aktuell blockierten Hafenanlagen erscheint der eigentlich anstehende Export von fünf bis acht Millionen Tonnen Weizen aus der Ukraine innerhalb der nächsten Monate unrealistisch", kommentiert Jörg Dehning, Fondsmanager des DJE Agrar & Ernährung bei der DJE Kapital.
Entscheidend werde nun sein, wie lange der Konflikt in der Ukraine anhält. Aktuell mangele es dort vor allem an Diesel für die Landmaschinen, aber auch an Mitarbeitern, die die jetzt fällige Aussaat bewerkstelligen müssten. In der Folge sei durchaus mit einem Rückgang des Erntevolumens von 30 bis 40% für die Vermarktungssaison 2022/23 zu rechnen. Saisonal bedingt wird es nicht einfach sein, diesen Ernteausfall zeitgleich durch die Lieferung aus anderen Ländern zu kompensieren.
Unter den grössten Weizenimporteuren befinden sich viele bevölkerungsreiche afrikanische Länder wie Ägypten, Algerien und Nigeria, aber auch Indonesien und Bangladesch. "Diese Staaten werden versuchen, ihren zusätzlichen Bedarf nun in Australien, Indien oder Nordamerika zu decken. Die entscheidende Frage bleibt jedoch, inwieweit die Importeure überhaupt preislich akzeptable Ware angeboten bekommen. Viele Tender sind zuletzt geplatzt. Wie in den Jahren 2007/08 wirkt in diesem Zusammenhang das Verhalten einiger Staaten preistreibend, den eigenen Getreideexport komplett einzustellen beziehungsweise zu beschränken", erläutert Dehning.
Wie er weiter ausführt, haben neben Russland bereits Ungarn, Bulgarien und die Türkei Exportbeschränkungen verkündet – und dies teilweise entgegen der EU-Freihandelsvorschriften. Auch der wichtige EU-Lieferant Serbien wolle vorerst kein Getreide mehr exportieren. Umso mehr werde davon abhängen, inwieweit sich die Erntemengen in den wichtigsten Produktionsländern der EU, aber auch in Nordamerika, künftig entwickeln. Immerhin werden rund 210 Millionen Tonnen, also gut ein Drittel der gesamten globalen Produktionsmenge am Weltmarkt gehandelt. Dabei müsse man wissen, dass der Handel bei Getreide ein Vielfaches (46x) der eigentlichen Produktion beträgt, so der Fondsmanager des DJE Agrar & Ernährung bei der DJE Kapital.
Während bei Weizen und Mais zumindest eine Chance auf gewisse Kompensation durch andere Anbauregionen besteht, ist die Abhängigkeit von der Ukraine im Bereich Ölsaaten seiner Meinung nach kaum aufzufangen: So sei die Ukraine mit weitem Abstand der weltweit grösste Hersteller von Sonnenblumenöl mit einem Weltmarktanteil von nahezu 50%. Ersatzprodukte wie Rapsöl seien nun verstärkt gefragt und im Preis deutlich gestiegen. Allerdings sei selbst bei Raps die Versorgungslage wegen einer äusserst schlechten Vorjahresernte in Kanada schon angespannt. Vor diesem Hintergrund bleibe nur zu hoffen, dass Kanada dieses Jahr wieder an das Produktionspotenzial früherer Jahre anknüpfen kann.
Noch viel stärker dürfte der Produktionsausfall der Ukraine für den Bio-Sektor wiegen: 80% der Bio-Sonnenblumenprodukte kommen laut Dehning schliesslich von dort. Das Fehlen dieser Artikel im Supermarktregal sei allerdings das kleinste Problem, meint er. Der in der Verarbeitung erzeugte Ölpresskuchen sei vielmehr ein wichtiger Bestandteil der hiesigen Biofuttermittel. Auch die Gerste, die in der Ukraine angebaut wird, diene in erster Linie als Futtermittel. Engpässe bei Öko-Futtermitteln seien daher in den kommenden Monaten wohl kaum zu vermeiden.
"Da darüber hinaus 52% der EU-Maisimporte aus der Ukraine stammen, steuert Europa gerade regelrecht auf eine Futtermittelkrise zu, zumal es hier bedauerlicherweise zu wenige Bioethanolanlagen zur Herstellung eiweissreicher Trockenfutter gibt", warnt Dehning. Besonders betroffen sei die Schweinezucht in Spanien. Es verwundere daher nicht, dass die spanische Regierung wegen der Versorgungsprobleme selbst die Regeln für den Import von Mais aus Argentinien und Brasilien vorübergehend lockern möchte. So habe Spanien als Hauptabnehmer von Mais für Tierfutter die EU-Kommission umgehend dazu gedrängt, die Einfuhrkontrollen bei Mais aus Südamerika (sog. Genmais) schnellstmöglich zu lockern.
Ob die südamerikanischen Landwirte einen Teil der Ernteverluste in der Ukraine auffangen werden können, hängt laut dem Experten aber auch von weiteren wichtigen Faktoren ab. Das sogenannte "La-Nina»-Klimaphänomen habe zuletzt in zahlreichen Regionen Südamerikas für längere Trockenheitsperioden gesorgt. Infolgedessen wurden die Ernteschätzungen für die dortigen Sojabohnen mehrmals reduziert.
Nicht förderlich sei zudem die bis dato starke Abhängigkeit der brasilianischen Landwirte von russischen Düngemitteln: Mehr als die Hälfte des russischen Ammonium-Nitratdünger-Exportvolumens ging bislang nach Brasilien. Da Weissrussland und Russland ferner zusammen etwa 40% des globalen Kalidüngemittelangebots auf sich vereinen, sei man nun auch hier auf andere Lieferanten angewiesen. Eine brasilianische Delegation war daher erst jüngst in Kanada, um eine bessere Kaliversorgung zu erlangen. Das kanadische Produktionsvolumen soll denn auch im Laufe des Jahres nochmals um eine Million Tonnen hochgefahren werden. Die Kapazitätsanpassung dürfte nach Ansicht Dehnings dennoch nicht ausreichen, das Preisniveau für Kalidünger wieder auf ein akzeptables Niveau zurückzuführen.
Hierzulande verteuern die steigenden Gaspreise wiederum die Herstellung von Stickstoffdünger enorm, so dass bereits einige Anbieter zur Vermeidung von Verlusten den Betrieb diverser Produktionsanlagen gleich ganz eingestellt haben. "Auch wenn die höheren Getreidepreise den nominalen Hektarertrag tendenziell erhöhen, werden viele Landwirte in dieser Anbausaison versuchen, den eigenen Düngemittel-Einsatz einzudämmen beziehungsweise auf organische Stoffe wie Gülle umzusteigen. In der Folge sind selbst in Europa Ernteeinbussen von 10% und mehr nicht auszuschliessen", so der Fondsmanager.
Die Auswirkungen auf die Konsumenten sind seiner Ansicht nach differenziert zu betrachten: So dürften die gestiegenen Getreidepreise in entwickelten Ländern nur zu einer leicht höheren Inflation führen. Bei einem Preisanstieg von 100 Euro je Tonne netto für Qualitätsweizen erhöht sich der Weizenkostenanteil im kg Weizenbrot gerade mal um 9,3 Cent. Hier werde ohnehin oft übersehen, dass ein immer geringerer Anteil der Nahrungsmittelausgaben auf das landwirtschaftliche Produkt selbst entfalle. Andere Bereiche der Wertschöpfungskette seien in der Folge wesentlich wichtiger geworden.
"Kritisch sind in diesem Zusammenhang eher die Lieferkettenprobleme, die Energie und Warenknappheit an sich. Nicht verfügbare oder zu teure Futtermittel werden die Produktion von Fleisch und Fisch mittelfristig belasten. Das bekommt wiederum die Fleisch- und Fischverarbeitungsindustrie massiv zu spüren. So müssen Schlachtunternehmen derzeit im Einkauf Aufschläge akzeptieren, um überhaupt an ausreichend Ware zu kommen. Die Zucker- und Stärkeindustrie ist andererseits extrem energieintensiv und demzufolge auf eine verlässliche Gasversorgung angewiesen. Sollte es hier wegen Sanktionen oder kriegsbedingt zu Lieferunterbrechungen kommen, sind Angebotsbeschränkungen wahrscheinlich. Meist stehen die Strom- und Gaskontrakte der Lebens- und Düngemittelindustrie sowieso unter 'Force Majeure'- Vorbehalt, ebenso wie Logistikkontrakte", erklärt Dehning.
Die aktuellen Turbulenzen an den internationalen Agrarmärkten dürften vermutlich auch die frühere "Tank oder Teller»-Diskussion wieder in den Medien-Fokus rücken, meint der Experte. Angesichts der Knappheit von Agrargütern und Energie hätten wir heute jedoch eine ganz andere Ausgangslage als 2007/08: "Die strategischen Weichenstellungen in der Energie- und Agrarpolitik sind deshalb entscheidender denn je", betont Dehning. Neben Solar- und Windenergie sollten wohl auch Biomethan aus Gärresten und Gülle wieder stärker gefördert werden. Die Rücknahme von EU-Stilllegungsflächen um vier Prozentpunkte könnte andererseits theoretisch etwa 12% des Ernteausfalls aus der Ukraine auffangen (unter der Annahme gleicher Hektarerträge). Generell müsse die Nahrungsmittelproduktion in diesem Umfeld massgeblich unterstützt werden und in der Gasversorgung absoluten Vorrang haben, sagt er.
"Das positive Preisumfeld im Agrarsektor dürfte den Unternehmen aus dem Bereich teils erheblichen Rückenwind verleihen. So wird die Verschiebung der Handelsströme bei Agrargütern vor allem den international tätigen Agrarhändlern ein gewisses Zusatzgeschäft bescheren. Generell profitieren breit aufgestellte Agrarkonzerne von der aktuellen Situation (Archer Daniels Midland oder Bunge). Im Düngemittelsegment profitieren insbesondere die nordamerikanischen Produzenten (Nutrien und Mosaic) von einer vergleichsweisen besseren Gasversorgung. Saatgut- und Pflanzenschutzproduzenten (Corteva oder auch Bayer und BASF) müssen zwar mit höheren Rohstoffkosten kalkulieren, eine gute Produktnachfrage sollte aber dennoch die Ertragsentwicklung begünstigen. Im Bereich Landtechnik (AGCO und Deere) bleiben wiederum effizienzsteigernde Innovationen das wichtigste Verkaufsargument und damit Kriterium für die Aktienauswahl", erklärt Dehning.