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ESG-Ratings: Qualität schlägt Quantität

Das Urteil, wie nachhaltig ein Unternehmen unterwegs ist, sollte nicht auf ein einziges ESG-Urteil resp. -Rating abgestützt sein. (Bild: Shutterstock.com/Sergii Gnatiuk)
Das Urteil, wie nachhaltig ein Unternehmen unterwegs ist, sollte nicht auf ein einziges ESG-Urteil resp. -Rating abgestützt sein. (Bild: Shutterstock.com/Sergii Gnatiuk)

Ein einzelnes, auf Daten basierendes ESG-Rating kann nicht alles erfassen, was es vorzugeben verspricht. Zur vollständigen Beurteilung der Nachhaltigkeit eines Unternehmens brauche es mindestens zwei Ratings, fordert Flora Wang, Director, Sustainable Investing bei Fidelity International: eines für den positiven Einfluss eines Unternehmens und eines für die negativen Folgens seines Schaffens.

30.08.2022, 16:23 Uhr
Nachhaltigkeit

Redaktion: hf

Die Nachricht von Anfang Jahr, Tesla sei aus dem Nachhaltigkeitsindex S&P 500 ESG gestrichen worden, löste breite Verwunderung aus. Denn mit seinen Produkten hat der Autobauer aus Kalifornien der E-Mobilität enormen Schub verliehen. Für den Rauswurf aus dem Index verantwortlich waren seine nicht immer weisse Weste in Sachen Arbeitsrecht, die fehlende Begrünung seiner Produktionsanlagen und Probleme mit den Batterielieferketten. Eine Verschlechterung des ESG-Gesamtratings war die Folge und gab den Ausschlag für den Entscheid von Standard & Poor's.

Dem Indexanbieter warf Tesla-Vorstandsmitglied Hiromichi Mizuno, ein Pionier der ESG-Finanzanlage in Japan, daraufhin vor, sich zu stark auf negative und zu wenig auf positive Faktoren zu konzentrieren. "Daran mag etwas Wahres sein", kommentiert die ESG-Expertin Flora Wang von Fidelity International. Aber klar sei auch, "dass ein einzelnes, auf Daten beruhendes ESG-Rating nicht alles erfassen kann und dies auch nicht vorgeben sollte."

Mehrere Ratings statt nur eines

Dazu brauche es mindestens zwei verschiedene Ratings, fordert Wang: eines für den positiven Impact und eines für die negativen Auswirkungen eines Unternehmens. Mit nur einem Wert bzw. Score beides abdecken zu wollen, "schmälert zwangsläufig den Informationswert eines einzelnen Ratings, denn die positiven und negativen Aspekte heben sich unweigerlich gegenseitig auf." Die Folge sei ein Rating, das weder dem einen noch dem anderen gerecht werde und beim Anlageentscheid keine wirkliche Hilfe sei.

Stattdessen könnte man sich bei ESG-Ratings auf die negativen Auswirkungen eines Unternehmens konzentrieren und mithilfe eines anderen Modells die positiven Aktivitäten bewerten, etwa, wie stark seine Produkte zur Bekämpfung des Klimawandels helfen. Hierzu würden sich z. B. die Ziele der Vereinten Nationen für nachhaltige Entwicklung (SDGs) anbieten.

Tesla beispielsweise hat einen hohen SDG-Score, der Umsatz aus dem Verkauf von Elektrofahrzeugen und grüner Technologie stammt – beides wichtige Voraussetzungen für das Erreichen von Klimaneutralität. Was nicht heissen soll, dass die niedrigere ESG-Note für Tesla nicht von Belang wäre, fügt Wang an: "Aber nur beide Ratings zusammen ergeben ein klareres Bild von den Auswirkungen des E-Autopioniers und können bei Allokationsentscheidungen hilfreich sein".

Will ein Anleger bewusst in Klimalösungen investieren, sollte das SDG-Rating ausschlaggebend sein. Spielen für ihn die Produkte resp. Dienstleistungen keine Rolle, sondern möchte er einfach in Unternehmen anlegen, die sich umwelt- und sozialverträglich verhalten, sollte das ESG-Rating im Vordergrund stehen. In der Praxis werden beide Ratings zusammen verwendet: Mit dem SDG-Rating streben Investoren bestimmte positive Wirkungen an, während sie mithilfe eines Schwellenwerts für das ESG-Rating Mindestnachhaltigkeitsstandards einhalten.

Die Zahlen gewichten

Die derzeit üblichen ESG-Ratings geben nur unzureichend Aufschluss über die Nachhaltigkeit einer Firma. Das hat technische Gründe. Zum einen fassen die Ratinganbieter häufig unterschiedliche Werte für Umwelt (E), Soziales (S) und Unternehmensführung (G) zu einer einzigen Note zusammen, indem sie jedem Faktor ein Gewicht zuweisen und daraus einen Durchschnitt errechnen.

Dieser Ansatz funktioniert umso besser, je näher die Werte an den beiden Enden des ESG-Spektrums liegen. Ein sehr hohes ESG-Rating deutet in der Regel darauf hin, dass ein Unternehmen bei allen drei ESG-Faktoren sehr gut abschneidet. Das gilt auch für den umgekehrten Fall.

Bei den meisten Unternehmen, die dazwischenliegen, kann das ESG-Rating jedoch in die Irre führen. Trotz schlechter Ökobilanz können beispielsweise die Titel eines Unternehmens im Portfolio eines ESG-Fonds vorhanden sein, solange sein schwacher Umwelt-Score durch überdurchschnittliche Werte in den Bereichen Soziales und Unternehmensführung kompensiert wird.

Das erkläre etwa, führt Flora Wang aus, weshalb Anbieter fossiler Brennstoffe, die kaum Interesse an einer Energiewende haben, ein überraschend hohes ESG-Rating aufweisen und selbst Unternehmen wie Tesla in der Rangliste abrutschen können. "Und es ist der Grund, weshalb Anleger die Positionen eines ESG-Fonds genau unter die Lupe nehmen sollten", ergänzt sie.

Absoluter vs. relativer Vergleich

Darüber hinaus spielt es eine Rolle, ob Unternehmen im Vergleich zu anderen, also relativ, oder absolut bewertet werden. "Eine relative Bewertung ist im Wesentlichen ein Ranking innerhalb einer häufig fragwürdigen Vergleichsgruppe und keine realistische Beurteilung der Nachhaltigkeit", so die Expertin für nachhaltiges Investieren bei Fidelity International. Ein solcher Vergleich kann dazu führen, dass ein Unternehmen, dessen ESG-Bilanz auf absoluter Basis schlecht ist, trotzdem ein Top-Rating erhält, wenn die anderen in seiner Vergleichsgruppe noch schlechter dastehen.

Relative Bewertungen können sich auch verändern, ohne dass ein Unternehmen etwas dazu beigetragen hat, sondern einfach aufgrund von Veränderungen innerhalb der Vergleichskategorie, sei es, weil Unternehmen neu aufgenommen oder weil welche umklassifiziert worden sind.

Auf der Portfolioebene kann ein solcher Ansatz völlig sinnfrei sein, denn ein Depot mit den besten Kohlebergbaufirmen beispielsweise schneidet, basierend auf relativen Ratings, möglicherweise punkto ESG besser ab als eines mit einer durchschnittlichen Auswahl an Finanzunternehmen.

Daten versus Analyse

Selbst wenn Anleger zwei auf absoluter Basis ermittelte Ratings verwenden, spiegeln diese unter Umständen nicht alle Fakten richtig wider. Das gelte vor allem dann, wenn die Ratings ausschliesslich auf Daten beruhen oder in einen formelhaften qualitativen Rahmen eingebunden sind, gibt Wang zu bedenken. "Für ein vollständiges Bild kommt man um eine tiefer gehende Analyse eines Unternehmens nicht herum".

Dies können ESG-Analysten, die sich allein auf quantitative Modelle und übergeordnete Kriterien stützen, kaum leisten. "In der Regel fehlt ihnen das nötige Fachwissen, um die ESG-Daten im Kontext der Geschäftstätigkeit eines Unternehmens richtig einzuordnen. Für erfahrene Fundamentalanalysten, die mit ESG-Methoden vertraut sind und bei regelmässigen Besuchen der Unternehmen aus erster Hand Einblick in deren ESG-Praktiken und -Pläne bekommen, ist dies jedoch in der Regel möglich", betont die Spezialistin.

Am Beispiel des Emissionsmanagements verdeutliche sie ihre Feststellung: "Nehmen wir für das fiktive Petrochemie-Unternehmen "Nur Geld Zählt" (NGZ) einen Rückgang der Kohlenstoffintensität im Vergleich zum Vorjahr an, während der ebenfalls fiktive Konkurrent "Liebe den Planeten" (LP) einen Anstieg verzeichnet hat", illustriert sie. Basierend auf den derzeit verwendeten Ratings würde NGZ vermutlich positiver beurteilt. Dabei könnten jedoch grundlegende Fakten ausser Acht gelassen werden.

"Vielleicht ist NGZ, wie sein Name schon sagt, die Umwelt egal, und sein CO2-Ausstoss ist nur deshalb gesunken, weil seine grösste Dreckschleuder den Grossteil des Jahres ausser Betrieb war. Bei LP hingegen ist die CO2-Intensität nur vorübergehend gestiegen, weil seine kohlenstoffintensiveren Produkte grösseren Anteil am Umsatzmix hatten als im Jahr davor". Und Wang führt weiter aus: "LP hat jedoch seine Produktionsanlagen umgerüstet, um die Emissionen zu senken, und in Technologien investiert, die Kohlenstoff aus der Atmosphäre entfernen, sodass seine CO2-Bilanz zukünftig besser ausfallen wird." Ohne diese vor Ort gewonnenen Einblicke sei es unmöglich, beiden Unternehmen ein aussagekräftiges Rating zu erteilen.

Bewertung kann völlig unterschiedlich sein

Aktuell sind die auf quantitativen Verfahren beruhenden ESG-Ratings so konzipiert, dass sie Fehlinterpretationen oder Fehlanwendungen Vorschub leisteten. Zudem könne ein Unternehmen völlig unterschiedlich bewertet werden, je nachdem, welches Ratingsystem verwendet wird. Das stellt Anleger bei der Bewertung von Nachhaltigkeit, dem Aufbau von Portfolios und der Messung von Ergebnissen vor Herausforderungen.

"Wir gehen davon aus, dass die Standardisierung der Ratings weiter voranschreiten wird und die verschiedenen Ratingtypen zunehmend ein vollständigeres Bild ergeben werden", sagt die Nachhaltigkeits-Expertin von Fidelity International. Aber selbst dann seien qualitative Einblicke weiterhin entscheidend. Die Integration von ESG-Faktoren in den Anlageprozess sei weniger ein Ziel, das man irgendwann erreiche. "Es ist eine Reise, die besser wird, je mehr Menschen sich dazu aufmachen."

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