Bedürfnis nach Energieunabhängigkeit in der EU drastisch erhöht

Europäische Länder wollen den Übergang zu einer Netto-Neutralität beschleunigen. (Bild: Getty Images)
Europäische Länder wollen den Übergang zu einer Netto-Neutralität beschleunigen. (Bild: Getty Images)

Der verheerende Krieg in der Ukraine hat das Bedürfnis nach Energieunabhängigkeit in der Europäischen Union drastisch erhöht. Nun hat die EU einen Plan zur Verringerung ihrer Abhängigkeit von russischem Gas angekündigt. Laut Fidelity wird dies kurzfristig eine stärkere Nutzung fossiler Brennstoffe erfordern, langfristig sollte jedoch die Umstellung auf erneuerbare Energien beschleunigt werden.

30.03.2022, 05:00 Uhr
Nachhaltigkeit

Redaktion: rem

Inmitten des schrecklichen Krieges in der Ukraine und der wahrscheinlichen Eskalation der Sanktionen suchen die europäischen Regierungen eilig nach Möglichkeiten, ihre Abhängigkeit von russischem Gas zu verringern, indem sie Kohlekraftwerke in Europa wieder in Betrieb nehmen oder deren Schliessung aufschieben und andere Gasquellen erschliessen. Kurzfristig werden dadurch die Emissionen und Kosten steigen, sagen die Fidelity-Experten Jenn-Hui Tan, Global Head of Stewardship and Sustainable Investing, Matthew Jennings, Investment Director und Alexander Laing, Analyst und Portfolio Manager.

Gleichzeitig suchten Länder und Unternehmen nach Möglichkeiten, ihre Abhängigkeit von höheren Öl- und Gaspreisen durch mehr Effizienz, den verstärkten Einsatz kostengünstiger Alternativen wie erneuerbarer Energien und Investitionen in die Kernenergie zu verringern. "Wind und Sonne gehören niemandem", stellte der deutsche Wirtschaftsminister und Mitglied der Grünen Partei, Robert Habeck, kürzlich fest.

Verringerung der Abhängigkeit von russischem Gas

Die Internationale Energieagentur hat letzte Woche einen 10-Punkte-Plan zur Verringerung der Abhängigkeit von russischem Gas vorgelegt. Darin werden Massnahmen wie die Umleitung zu anderen Gaslieferanten, die Erhöhung der Gasspeicherung, die Beschleunigung des Ausbaus von Wind- und Solarenergie, die Maximierung der bestehenden Stromerzeugung aus Bioenergie und Kernkraft sowie die beschleunigte Einführung von Wärmepumpen als Ersatz für Gaskessel empfohlen. Und jüngst kündigte die EU einen Plan zur Erreichung der Energieunabhängigkeit "deutlich vor 2030" an, der eine stärkere Nutzung von Flüssiggas und Energiespeichern sowie eine schnellere Einführung erneuerbarer Energien vorsieht. "Langfristig erwarten wir daher, dass die verstärkte Betonung der Energieunabhängigkeit neben der strukturellen Entwicklung in Richtung "Netto-Null" die Energiewende beschleunigen wird", so die Fidelity-Experten.

Kurzfristig ist mit einem Anstieg der Emissionen zu rechnen

Kurzfristig werde das Streben nach Unabhängigkeit angesichts des derzeitigen Energiemixes in der EU zu höheren Emissionen führen (vgl. Abbildung). Die EU ist bei 40% ihres Gases von Russland abhängig (90% des gesamten Gases wird importiert). Die Versorgungslücke kann laut den Experten nicht vollständig durch den Wechsel zu alternativen Gaslieferanten geschlossen werden, und der Aufbau von Wind- und Solaranlagen braucht Zeit. Daher wird sie andere fossile Brennstoffe in Betracht ziehen müssen.

Der EU-Energiemix

Deutschland hat beispielsweise angekündigt, dass es die geplante Schliessung einiger Kohlekraftwerke verschieben und sogar eine Verlängerung der Laufzeit von Kernkraftwerken in Betracht ziehen könnte, obwohl rechtliche und technische Hindernisse dies nach Meinung der Fidelity-Experten unmöglich machen könnten. Deutschland beschloss 2011 nach der Katastrophe von Fukushima den Ausstieg aus der Kernenergie – eine Entscheidung, die das Land noch abhängiger von russischem Gas machte.

In Italien hat Ministerpräsident Mario Draghi unterdessen erklärt, dass das Land die Wiederinbetriebnahme von Kohlekraftwerken in Betracht ziehen würde, und versucht, die in den letzten Jahren zurückgegangene heimische Gasproduktion zu steigern. Enel, Italiens grösster Energieversorger, hat im Einklang mit seinen Zielen für einen vollständigen Ausstieg aus der Kohleverstromung bis 2027 Kohlekraftwerke geschlossen und bisher keine Pläne zur Wiederaufnahme der Kohleverstromung bekannt gegeben. "Wir haben letzte Woche mit dem Unternehmen gesprochen, und es hält an seinen langfristigen Zielen für die Dekarbonisierung fest, räumt aber die kurzfristige Unsicherheit ein. Das Unternehmen hat ausserdem angekündigt, dass es seine Pläne zur Umstellung von zwei Kohlekraftwerken auf Gas ändern und stattdessen die Möglichkeit einer Umfunktionierung in eine Infrastruktur zur Speicherung erneuerbarer Energien prüfen wird", so die Experten von Fidelity. Die europäischen Versorgungsunternehmen werden wahrscheinlich die Energiespeicherung sowohl für Gas als auch für erneuerbare Energien ausbauen und mehr Gas aus Nordafrika und dem Nahen Osten beziehen, meinen sie.

Beschleunigung der erneuerbaren Energien

Die europäischen Länder suchen nicht nur nach alternativen Quellen für fossile Brennstoffe, sondern haben auch langfristige Pläne zur Beschleunigung des Übergangs zu einer Netto-Neutralität bekannt gegeben. Deutschland, das bisher ein Netto-Null-Ziel für 2040 hatte, hat dieses nun auf 2035 vorgezogen und glaubt, 80% seines Ziels bis 2030 erreichen zu können. Der deutsche Klimaminister Oliver Krischer twitterte über die Änderung als eine Möglichkeit, sich an die Seite der Ukraine zu stellen. Andere europäische Länder haben ähnliche Absichten geäussert, doch bisher hat laut den Fidelity-Experten noch kein anderes Land sein Netto-Null-Ziel neu formuliert.

Zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Berichts habe es kaum tatsächliche Unterbrechungen der Öl- und Gaslieferungen nach Europa gegeben. Die Länder bereiteten sich jedoch auf diese Möglichkeit vor, und die Preise seien infolgedessen erheblich angestiegen. Dies sei ein weiterer Anreiz für die Umstellung auf kostengünstigeren Strom.

In den letzten Jahren seien die Bau- und Betriebskosten für erneuerbare Technologien erheblich gesunken, so dass eine Beschleunigung der Netto-Null-Ziele finanziell machbar sei. Die Kosten für Solarenergie beispielsweise seien in den letzten 10 Jahren um rund 80% gesunken. Eine Erhöhung der Investitionen und der Einsatz von technischem Fachwissen in hochqualifizierten Volkswirtschaften wie Deutschland könnten die Kosten weiter senken. Auch könnten die Planfeststellungsverfahren beschleunigt werden, um der Dringlichkeit der geopolitischen und ökologischen Notwendigkeit Rechnung zu tragen.

Hindernisse bleiben bestehen

Die Preise für die wichtigsten Rohstoffe, die für den Übergang benötigt werden (z. B. Stahl und Aluminium), stiegen jedoch bereits vor dem Einmarsch in die Ukraine aufgrund der hohen Nachfrage nach Covid-19 und sind in den letzten Wochen noch weiter gestiegen.

Seltene Metalle, die für Elektromotoren, Fotovoltaikzellen und Batterien benötigt werden, könnten besonders empfindlich auf Preisdruck reagieren, da sich die Produktion auf zwei Länder – Russland und China – konzentriert. "Die Aufrechterhaltung des Zugangs zu diesen wichtigen Lieferketten wird für einen erfolgreichen Übergang zu erneuerbaren Energien entscheidend sein", betonen Tan, Jennings und Laing.

Intermittenz bleibe ein Problem. Die unregelmässige Produktion von Wind- und Solarkraftwerken bedeute, dass erhebliche Fortschritte bei den Speichertechnologien erforderlich sind, um die allgemeine Akzeptanz zu fördern.
Nach der Invasion in der Ukraine begännen die Märkte, diesen erhöhten Bedarf zu reflektieren. So liessen die jüngsten Kursbewegungen bei Aktien von Wasserstoff-Elektrolyse-Unternehmen darauf schliessen, dass einige Anleger nun davon ausgehen, dass diese Technologie, die sich noch nicht in grossem Massstab bewährt hat, eines Tages einen Teil der Lösung darstellen werde.

"Angesichts des Krieges in der Ukraine sind die Vorteile einer Abkehr von einem Energiesystem, das von importierten fossilen Brennstoffen abhängig ist, noch deutlicher geworden. Auch wenn der Übergang noch Herausforderungen mit sich bringt, können wir hoffen, dass das europäische Energienetz in nicht allzu ferner Zukunft sowohl sauberer als auch autarker sein wird", sagen die Fidelity-Experten abschliessend.

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