Argentinien: «Schocktherapie, Revolution oder heisse Luft?»

Javier Milei, der neue argentinische Präsident ist seit 100 Tagen im Amt. (Bild lev radin/Shutterstock)
Javier Milei, der neue argentinische Präsident ist seit 100 Tagen im Amt. (Bild lev radin/Shutterstock)

«Als Franklin D. Roosevelt 1933 an die Macht kam, befanden sich die USA gerade im vierten Jahr der Grossen Depression. Angesichts der schweren wirtschaftlichen Turbulenzen hatte Roosevelt kaum eine andere Wahl, als innerhalb kürzester Zeit mit der Umsetzung von Strukturreformen zu beginnen. So wurde das Konzept der «ersten 100 Tage» eines Präsidenten oder einer Präsidentin geboren», schreibt Michael Talbot, Public Fixed Income bei M&G Investments.

19.03.2024, 09:03 Uhr
Obligationen

Redaktion: sw

Javier Milei, der neu gewählte argentinische Präsident, hat insofern Ähnlichkeiten mit Roosevelt, als er, gelinde gesagt, eine angeschlagene Wirtschaft geerbt hat und nun versucht, in kürzester Zeit Reformen durchzuführen. Die derzeitige Lage und eine Geschichte der Misswirtschaft, die durch Zahlungsausfälle gekennzeichnet ist und in jüngster Zeit durch die peronistische Bewegung beendet wurde, stellen Milei vor grosse Herausforderungen. Nun sind 100 Tage seit Mileis Amtsantritt vergangen. Er hatte erklärt, dass eine Schocktherapie für das Land erforderlich sein würde.

Grösster Staatsbankrott aller Zeiten

Um zu verstehen, wo das Land heute steht, muss man auf die Geschichte Argentiniens zurückblicken. Die Staatsausgaben in Prozent des BIP sind seit 1994 extrem gestiegen. Zwischen 1994 und 2022 hat Argentinien eine Reihe von Programmen zur Haushaltsexpansion eingeleitet, teils unterbrochen von Perioden der Sparsamkeit. Ein Gleichgewicht wurde nie wirklich erreicht. Die Staatsausgaben stiegen deutlich an, hauptsächlich durch Kreditaufnahme, was zu Haushaltsdefiziten und einem steigenden öffentlichen Schuldenberg führte. Einnahmen und Wirtschaftswachstum haben dies nie aufgeholt. Stattdessen kam es in der Regel zu Krisenzeiten, einer Abwertung des Pesos und wirtschaftlicher Instabilität. Dies verstärkte die Befürchtung, dass Argentinien mit seiner ineffizienten öffentlichen Verwaltung, Korruption und nicht nachhaltigen Sozialprogrammen niemals in die Lage sein würde, sich durch einen disziplinierten Ansatz nachhaltig zu entwickeln.

Argentinien hat auch die wenig beneidenswerte Ehre, mit 95 Milliarden Dollar im Dezember 2001 den grössten Staatsbankrott aller Zeiten zu verzeichnen. Zwischen 1994 und 2001 stiegen die Staatsausgaben um jährlich 2,67 Prozent und die Kreditaufnahmen um 9,09 Prozent. Der Ausgabenanstieg wäre noch tragbar gewesen, wenn auch die Staatseinnahmen gestiegen wären; bei einem stagnierenden BIP-Wachstum in diesem Zeitraum und einer annualisierten Wachstumsrate von nur 0,61 Prozent waren diese jedoch begrenzt. Was sich als noch unhaltbarer erwies, war der anhaltende Anstieg der Kreditaufnahme.

Der ständige Teufelskreis der Kreditaufnahme beim IWF, um die Kreditgeber zu befriedigen, wurde durch die sich erheblich verschlechternde Stimmung und die sich verschlechternden wirtschaftlichen Bedingungen, die Ende der 1990er Jahre ihren Höhepunkt erreichten, noch verschlimmert. Traurigerweise endete dieser Teufelskreis erst, als der IWF die Kreditvergabe an Argentinien 2001 einstellte.

Seit Ende 2023 steht die argentinische Wirtschaft erneut vor grossen Schwierigkeiten – mit einer jährlichen Inflation von über 200 Prozent, einem Leitzins der Zentralbank von 100 Prozent und einem Wechselkurs von mehr als 800 argentinischen Pesos für einen US-Dollar. Dies ist kein besonders günstiges Umfeld für die neue Regierung, um eine funktionierende Wirtschaft aufrechtzuerhalten, die nicht übermässig auf Kreditaufnahme oder Ausgaben angewiesen ist und in der die Einnahmen wachsen können.

Pragmatischer und orthodoxer als gedacht

Mileis Wahlkampf war eine einzige Achterbahnfahrt. Der kettensägenschwingende Wirtschaftswissenschaftler versprach, die Zentralbank zu «sprengen», den US-Dollar einzuführen und die Beziehungen zu allen Ländern zu kappen, die er als sozialistisch ansah, einschliesslich der Regierung Lula in Brasilien, das zufällig auch Argentiniens grösster Handelspartner ist.

Die Einführung des Dollars hat einige Vorzüge – Ecuador hat damit eine gewisse Stabilität erreicht –, aber Argentinien und der Dollar haben nicht immer Hand in Hand gearbeitet. Die zuvor beibehaltene Konvertierbarkeit des US-Dollars und des argentinischen Pesos war eine der vielen Belastungen, die Argentinien 2001 näher an die Zahlungsunfähigkeit brachten. Seit Milei an der Macht ist, wurden die hyperbolische Politik und die extremen Erklärungen abgeschwächt. Was man in den letzten 100 Tagen gesehen hat, war pragmatischer, orthodoxer und fiskalisch bewusster, als man hätte erwarten können.

Trotzdem hat Milei seine Grundthemen beibehalten. Er betrachtet den Sozialismus als eines der Übel der Welt und versucht, das Land von seiner wohlfahrtszentrierten Lebensart zu befreien, indem er zu einem marktwirtschaftlicheren, kapitalistischen Ansatz zurückkehrt. Sollte sein umstrittener Reformentwurf verwirklicht werden, werden die Rolle des Staates erheblich reduziert, staatlich kontrollierte Unternehmen privatisiert und Ausgaben drastisch gekürzt. Ein Null-Defizit ist nicht verhandelbar.

Die Märkte sind aktuell geduldig

Die Märkte haben den Wahlsieg von Milei und die anschliessenden Reformen als positiv bewertet. Die Kurse von Staatsanleihen mit Fälligkeit im Jahr 2030 stiegen von 29 Cent pro Dollar auf 45 Cent zum aktuellen Zeitpunkt. Die Renditenaufschläge für Staatsanleihen haben sich ebenfalls verbessert und sind von 2.165 auf 1.704 Basispunkte gesunken. Diese notieren zwar immer noch fest im notleidenden Bereich, aber es gibt Anzeichen einer Verbesserung.

Trotzdem bleibe noch viel zu tun. «Der Erfolg wird eher über Jahre als über Monate und schon gar nicht über nur 100 Tage gemessen werden. Es gibt immer noch erheblichen Gegenwind: Unruhen in der Arbeiterklasse, Armut auf einem Allzeithoch und eine fehlende Mehrheit im Kongress; und die Märkte können notorisch ungeduldig sein», glaubt der Autor.

Es liege jedoch auf der Hand, dass Argentinien weitaus grösser sein sollte als die Summe seiner derzeitigen Teile. Das Land verfügt über einen Reichtum an natürlichen Ressourcen und Viehbestand, einen geografischen Vorteil, der den Handel erleichtert, sowie über hochqualifizierte Arbeitskräfte.

Diese Faktoren allein reichten nicht aus, um eine Wirtschaft anzukurbeln. «Aber sie können sicherlich die Wirtschaft unterstützen, wenn sie mit einer vernünftigen Steuerpolitik und einer normalisierten Geldpolitik kombiniert werden. Wie so oft wird Geduld ein wichtiger Faktor sein, wenn es darum geht, ob sich die Märkte mit Argentiniens jüngstem Vorstoss in Richtung Wohlstand anfreunden können. Aber Geduld ist eine Tugend, und selbst Roosevelt brauchte sechs Jahre, um die mächtigen USA aus den Fängen der Grossen Depression zu befreien», erinnert Talbot.

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