01.11.2023, 10:17 Uhr
Technologisch wird in Bezug auf Künstliche Intelligenz (KI) oftmals von einer neuen Ära gesprochen, die 2023 eingeläutet wurde. «Solche Entwicklungsschübe geschehen in etwa alle zehn Jahre. Ist das Muster diesmal...
Das Coronavirus hat die Welt bereits seit knapp zwei Jahren fest im Griff. Es hat zu einem Innovationsschub geführt. Langfristig werden aber Wohlstandskrankheiten wie Adipositas und Diabetes dem Coronavirus im Healthcare-Sektor den Rang ablaufen, meint Maximilian-Benedikt Köhn von DJE Kapital.
Auf dem Gebiet der Biotechnologie brachte die Covid-19-Pandemie die rasante Weiterentwicklung der mRNA-Technologie bis hin zu einem probaten Impfstoff gegen das Virus hervor. Obwohl die technischen Grundlagen seit vielen Jahren bekannt waren, fehlten der Forschung bislang die nötigen Investitionen, die mRNA-Technologie zur Anwendungsreife zu bringen. Allen voran sind heute BioNTech/Pfizer und Moderna mit über drei Miliarden ausgelieferten Impfdosen in diesem Jahr führend bei den Kapazitäten. "Die aktuell rasch steigenden Inzidenzen und die hohe Auslastung der Intensivbetten machen deutlich, dass eine Booster-Impfung für alle bereits Geimpften notwendig ist, um den mit der Zeit abnehmenden Impfschutz zu erneuern", unterstreicht Maximilian-Benedikt Köhn, Fondsmanager bei der DJE Kapital, die aktuelle Entwicklung.
Wie Köhn weiter ausführt, sind abseits von den Impfungen gegen das Virus in den letzten Wochen auch vielversprechende Studiendaten von den beiden US-Pharmakonzernen Merck & Co. sowie Pfizer zu oral einzunehmenden Covid-19-Medikamenten veröffentlicht worden. Aus den Pfizer-Studien gehe hervor, dass das Medikament Paxlovid bei Covid-19-Patienten das Risiko für einen schweren Verlauf mit Hospitalisierung oder Tod um 89 Prozent gegenüber Placebo senkt. Voraussetzung war, dass die Patienten innerhalb von drei Tagen nach Einsetzen der Symptome behandelt wurden. Damit stelle der US-Pharmariese Pfizer die Konkurrenz Merck & Co. mit ihrem Medikament Molnupiravir – das in vergleichbaren Tests das Risiko nur halbieren konnte – in den Schatten. Die Pfizer-Tablette werde in Kombination mit Ritonavir, einem älteren antiviralen Mittel gegen HIV, verabreicht, so Köhn. Die Kombinationsbehandlung blockiert ein Enzym, welches das Coronavirus zu seiner Vermehrung benötigt. Die Merck-Pille Molnupiravir habe einen anderen Wirkmechanismus, der darauf abziele, Fehler in den Gencode des Virus einzuschleusen. Heisst: Während der Replikation des Virenerbguts passieren so viele Fehler, dass daraus keine funktionsfähigen Viren mehr entstehen können.
"Das Marktpotenzial beider Pillen ist enorm", betont der Fondsmanager. So könne Merck & Co. bereits über 20 Mio. Dosen im Jahr 2022 und Pfizer über 50 Mio. Dosen herstellen. Der Preis einer oralen Therapie werde bei etwa 700 US-Dollar liegen. Somit könnten beide Unternehmen zusammen über 45 Mrd. US-Dollar Umsatz generieren. "Aber diese Medikamente sind kurativ und wirken nicht präventiv wie eine Impfung. Somit ist die Entwicklung wirksamer Medikamente zwar ein wichtiger Baustein in der Bekämpfung der Pandemie, kann und wird aber die Covid-19-Impfung nicht ersetzen. Nichtsdestotrotz wird die Nachfrage nach Covid-19-Medikamenten sehr hoch sein, und viele Länder werden diese Medikamente sicherheitshalber bestellen, zumal der Preis dafür im Vergleich zur stationären bzw. intensivmedizinischen Behandlung von Covid-19-Patienten doch relativ gering erscheint", sagt Köhn.
Die Corona-Pandemie belastete nicht nur Sektoren wie den Tourismus oder den stationären Einzelhandel, auch das Gesundheitswesen wurde in Mitleidenschaft gezogen – auch wenn das Bild in diesem Sektor gemischt ausfiel. Natürlich profitierten viele Unternehmen, die an der Forschung, Entwicklung und Herstellung der Covid-19-Impfstoffe beteiligt sind. Gleichzeitig konnten sich auch Diagnostikahersteller und diagnostische Labore einen zusätzlichen Absatzmarkt schaffen. Auf der anderen Seite mussten planbare Operationen erheblich verschoben werden. In Grossbritannien zum Beispiel warten laut Köhn knapp fünf Mio. Menschen auf eine stationäre Behandlung. "Aber auch klassische Pharmaunternehmen litten unter der Corona-Pandemie. Therapie-Neueinstellungen bzw. Medikamenten-Umstellungen fanden vor allem in den Lockdown-Phasen kaum statt. Dieser negative Effekt zeigte sich bereits in den letzten Quartalsberichten der Pharmaunternehmen."
Covid-19 habe nur einen begrenzten Einfluss auf den Diabetesmarkt gehabt, wie der Experte weiter erklärt. Hier seien die langfristigen Treiber weiterhin intakt. Aktuell gibt es weltweit über 463 Mio. Diabetiker, viele sind nicht oder nicht optimal eingestellt, und die Zahl neuer Diabetiker wird weiter zunehmen. Was Diabetes für die staatlichen Gesundheitssysteme bedeutet, zeigt sich besonders an zwei Parametern: Zum einen sind etwa 70 Prozent aller Diabetespatienten im erwerbsfähigen Alter. Zum anderen entfielen über zwölf Prozent der weltweiten Gesundheitsausgaben in Höhe von über 730 Mrd. US-Dollar auf die Behandlung von Diabetes und deren Folgeerkrankungen wie Nierenschäden, Schlaganfälle, Herzinfarkte und Durchblutungsstörungen.
Wie Köhn beobachtet, rücken hierbei aber mehr und mehr auch die weltweit zunehmende Adipositas als Ursache für zum Beispiel den Typ-2-Diabetes oder chronische Lebererkrankungen wie die nichtalkoholische Fettleber in den Vordergrund. Besonders beim Typ-2-Diabetes sei das Marktpotenzial noch enorm. Laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) gibt es mehr als 1,9 Mrd. Menschen mit Übergewicht, davon sind über 650 Mio. adipös und weisen demnach einen Body-Mass-Index von über 30 auf. Lifestyle-Massnahmen wie z.B. Fitnessprogramme wirken, wenn überhaupt, nur temporär. Daher sind ergänzende Therapieoptionen notwendig. Aktuell werden nur zwei Prozent der Adipösen medikamentös behandelt, und dies mit zum Teil nur mässigem Erfolg.
Die Ursachen, aber auch Folgeschäden von Diabetes einzudämmen, ist das Hauptziel der Entwicklung neuer Diabetes-Medikamente, deren Wirkung laut dem Experten nicht auf die reine Senkung zu hoher Blutzuckerwerte abzielt. Denn: "Studien haben gezeigt, dass eine rein glukozentrische Sichtweise in der Diabetes-Therapie keinen positiven Einfluss auf Morbidität und Mortalität hat. Ein Beispiel für neuartige Produkte sind die sogenannten GLP-1. Dies ist die Abkürzung für Glucagon-like Peptid 1. Der duopolistische Markt wird aktuell dominiert von dem dänischen Diabetesspeziallisten Novo Nordisk und dem US-amerikanischen Pharmaunternehmen Eli Lilly. Bei GLP-1 handelt es sich um ein zu den Inkretinen zählendes Darmhormon, welches den Glukosestoffwechsel mitsteuert. Es fördert die Abgabe von Insulin, einem Hormon, das den Blutzuckerspiegel senkt. Es hat aber über weitere Mechanismen auch von Diabetes unabhängige Effekte", erklärt Köhn.
Der Markt wachse auch in Zeiten von Corona weiterhin deutlich zweistellig – auch bei dem gegenwärtig herrschenden Preisdruck in den USA. Selbst in der Covid-19-Pandemie konnte Novo Nordisk mit einem neuen oralen GLP-1 um mehr als 200 Prozent in den ersten drei Quartalen dieses Jahres wachsen. Aber auch im Hinblick auf mögliche Diabetes-Folgekrankheiten konnte Novo Nordisk jüngst ein neues Produkt auf den amerikanischen Markt bringen. Das neue Schlankheitsmittel Wegovy verspricht eine garantierte 15-prozentige Gewichtsreduktion binnen eines Jahres. Novo Nordisk wurde von der hohen Nachfrage in den USA anscheinend so überrascht, dass das Produkt in den USA oftmals bereits ausverkauft ist. Der Markt mit Schlankheitsmitteln ist laut Köhn nicht nur ein Massenmarkt, sondern auch ein starker Selbstzahler-Markt. Abseits von dem sehr lukrativen Margenpotenzial für Novo Nordisk bedeute dies aber auch einen Mehrwert für die Gesundheitssysteme, denn die Folgeerkrankungen von Diabetikern verschlingen allein in den USA über 377 Mrd. US-Dollar.
"Das Diabetes-Management rund um die Diagnostik und die Glukoseüberwachung ist eines der am weitesten fortgeschrittenen Felder in der digitalen Medizin. Die Anwendungen können in Kombination mit künstlicher Intelligenz und Datenanalyse einen starken medizinischen Nutzen für die Patienten erreichen", so Köhn. Der weltweite Markt für Diabetesgeräte betrug 2020 etwa 26 Mrd. US-Dollar und die durchschnittliche jährliche Wachstumsrate soll in den nächsten Jahren weiterhin mindestens hoch einstellig bleiben.
Unter den grossen Medizintechnik-Konzernen sind laut dem Fondsmanager Medtronic und Abbott Laboratories die Vorreiter in der Diabetesbehandlung, aber die Entwicklung bleibt nicht stehen, es kommen immer wieder Innovationen auf den Markt. So hinke etwa Roche mit seinem klassischen Blutzucker-Messgerät Accu-Check deutlich hinterher. Längst müsse man nicht mehr für jede Messung eine kleine Menge Blut auf einen Teststreifen geben, um den Blutzuckerspiegel zu bestimmen. Neue Anwendungen, sei es von Abbott Laboratories oder auch von den kleineren Nischenanbietern Dexcom und Insulet, können den Blutzuckerhaushalt dank eines kleinen Patches am Arm jederzeit über die App im Handy kontrollieren (sog. kontinuierliches Glukosemonitoring).
"Die Corona-Pandemie wird uns alle weiterhin beschäftigen. Bei Anlageentscheidungen gewinnen die Spartenauswahl und die regionale Diversifikation aber mehr und mehr an Bedeutung. Kurzfristig könnten Firmen, die orale Covid-19-Medikamente oder Auffrischungsimpfungen herstellen, profitieren", meint Köhn. Nach dem Ende der Pandemie werde Sars-CoV-2 nur noch endemisch auftreten, darüber sei sich die Wissenschaft inzwischen einig. Bedeutet: Das Virus wird weiterhin zirkulieren und saisonale und regionale Ausbrüche überall auf der Welt verursachen. "Wir alle werden lernen müssen, mit dem Virus zu leben – ebenso wie mit saisonalen Influenza-Wellen. Unabhängig davon bleibt Diabetes ein langfristiges, strukturelles Wachstumsfeld. Erfolgsversprechend dürften dabei vor allem Firmen sein, die mit ihrem Medikamenten-Portfolio die Risikofaktoren positiv beeinflussen bzw. mit Diabetes assoziierte Folgeerkrankungen eindämmen", schliesst Köhn seinen Einblick in die Wohlstandskrankheiten Adipositas und Diabetes.