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«Die freie Pensionskassenwahl wäre klar das bessere System»

Adriano B. Lucatelli ist ein ausgewiesener Finanzexperte mit grosser Führungserfahrung. Vor der Gründung von Descartes Finance im Jahr 2015 war er für mehrere Jahre in leitenden Funktionen bei UBS und Credit Suisse im In- und Ausland tätig und lehrte an der Universität Zürich. Seine Studien führten ihn u.a. an die London School of Economics und an die Wharton School. Das Schweizer Wirtschaftsmagazin Bilanz listete ihn unter den Top 100 der einflussreichsten Schweizer Banker.
Adriano B. Lucatelli ist ein ausgewiesener Finanzexperte mit grosser Führungserfahrung. Vor der Gründung von Descartes Finance im Jahr 2015 war er für mehrere Jahre in leitenden Funktionen bei UBS und Credit Suisse im In- und Ausland tätig und lehrte an der Universität Zürich. Seine Studien führten ihn u.a. an die London School of Economics und an die Wharton School. Das Schweizer Wirtschaftsmagazin Bilanz listete ihn unter den Top 100 der einflussreichsten Schweizer Banker.

Adriano Lucatelli, Gründer und CEO Descartes Finance bricht nach dem Volksentscheid für eine höhere AHV-Rente eine Lanze für ein starkes BVG-System mit freier Pensionskassenwahl und wünscht sich mehr Eigenverantwortung in der Altersvorsorge mit steuerlichen Anreizen in der Säule 3a.

04.04.2024, 19:55 Uhr
Interviews | Vorsorge

Redaktion: cwe

Herr Lucatelli, die Schweiz hat Ja zu höheren AHV-Zahlungen gesagt. Im Grunde genommen scheint das richtig: Den Auftrag der Existenzsicherung konnte die AHV nicht mehr vollumfänglich erfüllen.

Die Existenzsicherung ist Auftrag des Gesamtsystems, nicht spezifisch der AHV. Dieses Ziel war auch ohne die jetzt beschlossene Rentenerhöhung nicht im grossen Stil gefährdet. Für mich ist das Abstimmungsergebnis ein ernsthafter Sündenfall, ein Bruch des Generationenvertrags. Bis dahin hatte die Stimmbevölkerung bei den Staatsausgaben eher vernünftig abgestimmt. Sollte sich jetzt eine «Buy Now, Pay Later»-Mentalität festgesetzt haben, wäre das gefährlich. Wie wir wissen, gibt es keinen Free Lunch.

Bei der offenen Frage der Finanzierung der 13. AHV-Rente droht nun ein Angriff auf die 2. Säule und ihre Schwächung. Was würde das für das gesamte Vorsorgesystem bedeuten?

Ich rechne auch damit, dass es Versuche geben wird, die 2. Säule zu schwächen und eine Dynamik in Richtung Einheitskasse zu entfesseln. Das würde nichts Gutes bedeuten. In unserem Drei-Säulen-System steht die AHV für Solidarität, die 2. Säule verkörpert ein patriarchales Element (Zwangssparen) und die 3. Säule die Eigenverantwortung. Jedes der drei Elemente hat seine Stärken und Schwächen. Gesamthaft waren sie bis anhin gut austariert.

In der Schweiz ist das Verständnis für die BVG, die jedem Versicherten Kapitalmarkterträge für seine Rente sichert, beschränkt. Die AHV, die über Steuerbeiträge subventioniert wird, ist populärer. Woran liegt das?

Viele Leute betrachten die AHV als praktische Anwendung des schweizerischen Genossenschafts-Gedankens: man ist solidarisch miteinander. Der reiche Nachbar bekommt genau gleich viel AHV wie man selber, obwohl er viel höhere Beiträge bezahlt hat. Das stärkt das Zusammengehörigkeitsgefühl. Dazu kommt die Tatsache, dass die Einführung der AHV im Jahr 1948 in der politischen Folklore des Landes als wichtiger Erfolg der Linken gilt. Diese romantische Beziehung ist historisch vielleicht gerechtfertigt. Aber die heutige AHV mit ihrer strukturellen Überschuldung und Querfinanzierung aus dem Bundeshaushalt hat sich sehr stark von ihren geschichtlichen Wurzeln entfernt. Sie weist heute eine ganz andere Dynamik auf als bei der AHV-Gründung vor bald achtzig Jahren, als ein 65-jähriger Mann eine restliche Lebenserwartung von zwölf Jahren aufwies und eine 65-jährige Frau im Durchschnitt noch 13 Jahre zu leben hatte.

Die Vermögensverwaltungskosten in der BVG dienen als Angriffsflanke aus linken und gewerkschaftlichen Kreisen, die erzielten Renditen werden verschwiegen. Darf Vermögensverwaltung nichts kosten?

Gute Vermögensverwaltung kostet immer etwas. Das tut sie übrigens auch im Ausgleichsfonds Compenswiss, der die Reserven der AHV verwaltet. Dort sind es 19 Basispunkte (0,19 Prozent pro Jahr). Bei den Pensionskassen sind es gemäss der Pensionskassen-Studie von Swisscanto im Durchschnitt der letzten fünf Jahre 48 Basispunkte (0,48 Prozent). Solange die Pensionskassen gute Renditen erzielen, sehe ich darin kein Problem.

Woran krankt unsere berufliche Vorsorge?

Es gibt zu viele, vor allem kleine Pensionskassen, denen die effiziente und kostengünstige Anlage der Vorsorgegelder schwerfällt. Hinzu kommt, dass die Rendite infolge der politisch gewollten Tiefstzinsen im vergangenen Jahrzehnt gelitten hat. Zudem ist die Anlagepolitik zu stark politisch reglementiert. Die gesetzlichen Bestimmungen zwingen die Pensionskassen, übermässig in Immobilien und Obligationen zu investieren, was sie einem riesigen Zinsrisiko aussetzt.

Wäre eine freie Pensionskassenwahl der Weg, um das System insgesamt effizienter und professioneller zu machen?

Meiner Überzeugung nach wäre das ein klar besseres System. Weil die Pensionskasse heute dem Arbeitgeber obliegt, haben zahlreiche Versicherte nur sehr ungenügende Kenntnisse. Überraschend viele wissen nicht einmal, dass das Pensionskassengeld ihnen persönlich gehört. Das würde sich bei freier Pensionskassenwahl durch die Versicherten sicherlich verbessern. Der Markt würde besser spielen, das ganze System würde transparenter und offener für Innovation und Digitalisierung.

Pensionskassen sollen auch vermehrt eine Nachhaltigkeitsrendite erzielen und in ESG-Anlagen investieren. Entspricht dies dem eigentlichen gesetzlichen Auftrag?

Das Gesetz über die Betriebliche Vorsorge (BVG) beauftragt die Vorsorgeeinrichtungen, das Vermögen so zu verwalten, dass «Sicherheit und genügender Ertrag der Anlagen, eine angemessene Verteilung der Risiken sowie die Deckung des voraussehbaren Bedarfes an flüssigen Mitteln gewährleistet sind». Es geht also um die Maximierung der Anlagerendite bei einem grösstenteils politisch festgelegten, sehr geringen Risiko. Von einer Nachhaltigkeitsrendite liest man im Gesetz nichts. Das ist meines Erachtens richtig. Erstens wäre in Anbetracht der umfangreichen Immobilien-Anlagen vieler Pensionskassen ein solcher Auftrag extrem schwierig umzusetzen und auch teuer. Zweitens ist das politische Korsett bei den Anlageentscheidungen ohnehin schon viel zu engmaschig. Zusätzliche ESG-Regeln würden zu einer weiteren Politisierung der Anlagepolitik führen. Dadurch würde das Universum an zulässigen Anlageentscheidungen noch kleiner, was dann auf Kosten der Rendite ginge.

Die 3. Säule gilt heute ja als Mittel, um die bei AHV und BVG entstehenden Rentenlücken zur Sicherung des Lebensstandards zu füllen. Die Vermögensverwaltungskosten in der Säule 3a sind dagegen kaum ein öffentliches Thema. Warum?

Weil sie extrem tief sind. Sehr viele Leute legen ihre Säule 3a ja sehr defensiv in Cash an, also auf einem Bankkonto. Die Dritte Säule ist der einzige wirklich privatrechtliche Bereich des schweizerischen Vorsorgesystems. Die Innovation, die in den letzten Jahren bei den Säule-3-Depots stattgefunden hat, zeigt, dass der Markt funktioniert. Digitale, sehr nah am Index investierende Anbieter wie Frankly oder Descartes etc. weisen sehr tiefe Verwaltungskosten auf.

Was sollte sich an der 3.Säule ändern, damit ihre Leistungen breiter und besser zum Tragen kommen?

In Anbetracht der Schwierigkeiten bei AHV und BVG sollten wir die Leute motivieren, in der 3. Säule zu sparen. Dafür sollten die steuerlichen Anreize für eigenverantwortliche Vorsorge ausgebaut werden. Zum Zeitpunkt der Einzahlung sollte der steuerlich abzugsfähige Beitrag von 7’056 Franken auf mindestens 14’000 Franken pro Jahr verdoppelt werden. Zudem finde ich, dass Leistungen aus 3. Säule, wie Rentenleistungen allgemein, zum Zeitpunkt der Auszahlung von der Einkommenssteuer befreit sein sollten. Man vergisst gerne, dass jeder, der in der 3. Säule freiwillig Alterskapital anspart und dieses investiert, einen Beitrag an seine finanzielle Eigenständigkeit im Alter leistet. Dadurch entlastet er oder sie die Allgemeinheit. Das ist mit jahrzehntelangem Konsumverzicht verbunden. Ebenfalls wünschenswert wäre eine Lockerung der engen zeitlichen Grenzen für die Einzahlung. Der Vorschlag von Ständerat Erich Ettlin, dass man eine verpasste jährliche Einzahlung über fünf Jahre nachholen kann, geht in die richtige Richtung. Ich würde mir aber eine sehr viel weitergehende Flexibilisierung der Einzahlungs-Fristen wünschen. Die derzeitige Regelung ist im Angesicht der heutzutage volatilen Beschäftigungsverhältnisse nicht mehr zeitgemäss.

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