04.12.2024, 10:51 Uhr
«Während die Märkte von einer lockeren Geldpolitik beflügelt werden, drohen politische Umwälzungen in den USA sowie geopolitische Spannungen», schreibt Nicolas Forest, Chief Investment Officer bei Candriam in...
Ein etwaiger Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union (Brexit) würde die britische Wirtschaft langfristig nur marginal belasten und die EU politisch schwächen. Das Economic Research Team von LGT Capital Partners führt mögliche Szenarien aus.
In der ersten Phase würde ein Brexit zur weiteren Aufrechterhaltung der Volatilität an den Finanzmärkten beitragen. Die betroffenen Währungen dürften länger schwach bleiben, weil angesichts des absehbaren kurzfristigen Schocks die Geldpolitik wohl gegensteuern würde.
Die Briten entscheiden am 23. Juni, ob sie in der EU bleiben. Nach dem Abschluss eines Abkommens, das dem Vereinigten Königreich (GB) weitere Privilegien und Ausnahmen innerhalb der EU gewährt, unterstützt Premierminister David Cameron nun den Verbleib GBs in der EU. Sollten die Wähler anders entscheiden, wird Downing Street zwei Jahre Zeit haben, um den Austritt mit der EU auszuhandeln. Die Umfragen lassen einen Brexit weiterhin offen. Daher macht es Sinn, die Auswirkungen einmal festzuhalten.
Politischer Verlust für Europa und wirtschaftliche Kosten für GB
Politisch würde GB an Souveränität gewinnen, während die EU an "Soft Power" einbüssen würde, d.h. an militärischem und globalem Einfluss und institutioneller Vertretung. Darüber hinaus würde die historisch wirtschaftsliberale Ländergruppe in der EU selbst mit Deutschland als Wechselwähler nicht mehr in der Lage sein, eine Sperrminorität von 35% zu bilden. Das politische Gleichgewicht würde stärker in Richtung "mehr Regulierung, weniger Markt" kippen.
Beim Handel wären die Verluste für die EU marginal. Für GB könnten sie höher ausfallen je nachdem, wie die Austrittsbedingungen aussehen und wie sich die Handelsbeziehungen mit nichteuropäischen Ländern entwickeln würden. In jedem Fall würde London den EU-Marktzugang bewahren wollen und sich um ein entsprechendes Abkommen bemühen. Dies würde einen Kompromiss zwischen erhöhtem Marktzugang, finanziellen Beiträgen und mehr Freiheit in nationalen Regulierungs- und Zollfragen erfordern. Die wahrscheinlichste Option ist folglich eine Art Freihandelsabkommen (FTA). Denn ein Modell nach Schweizer Vorbild dürfte die EU aus Angst vor Rosinenpickerei zurückweisen, während GB mit dem Modell Norwegens zwar gleichen Marktzugang, aber keine Mitbestimmungsrechte hätte. In einer Zollunion nach türkischem Modell wiederum würde sich GB verpflichten, dieselben EU-Exporttarife zu übernehmen ohne jegliche Garantie für Zugang zu Drittmärkten.
Die unter diesen Umständen anfallenden Handelskosten eines "Brexit" dürften von 2018 bis 2030 insgesamt 0.3% bis 1.7% des GB-Bruttoinlandprodukts (BIP) betragen. Bei den ausländischen Direktinvestitionen (FDI) ist GB der Topempfänger der EU, wobei knapp die Hälfte des Kapitalstocks aus EU-Ländern stammt. Im "Brexit"-Fall würden offene Steuer- und Regulierungsfragen die Kapitalströme und damit das Wirtschaftswachstum und das britische Pfund zunächst belasten, was das BIP bis 2030 um bis zu 0.35% belasten könnte. Sollte London allerdings investitionsfreundliche Massnahmen forcieren, könnte das BIP zusätzlich um bis zu 1.3% höher ausfallen als ohne Brexit.
Keine grossen Einsparungen für London und erhebliche Verluste für die EU
Unter der Annahme, dass GB mit der EU eine Art Freihandelsabkommen aushandeln würde, könnten die Netto-Zahlungen um rund 35% sinken. Da aber auch die Empfänger bisheriger britisch-mitfinanzierter EU-Mittel kompensiert werden müssten, würden die tatsächlichen Einsparungen nur etwa 10% betragen (0.1% des BIP). Die EU würde hingegen einen grossen Nettozahler verlieren. Die restlichen Beitragszahler müssten dann 2 bis 5% mehr einzahlen, die Empfängerstaaten ihre Ausgaben um rund 0.5 bis 5% senken.
Einzelne "Brexit"-Kostenrechnungen variieren stark, da sie grundsätzlich von spezifischen Annahmen und der politischen Voreingenommenheit abhängen. Auf jeden Fall würden die negativen Auswirkungen mit der Zeit nachlassen und der annualisierte Brexit-Effekt dürfte langfristig marginal ausfallen. Im besten Fall könnten die Briten sogar einen kleinen Gewinn für sich herausquetschen falls sie ihr Land noch stärker für Investitionen und den Handel mit anderen Regionen öffnen würden. Die Kernfrage für die Zukunft lautet im Wesentlichen: Wird nun dieser mögliche kleine Gewinn den meisten Briten genügend Motivation bieten, um der EU einen unter Umständen fatalen politischen Schlag zu versetzen?
Den vollständigen Marktkommentar und Grafiken finden Sie hier (PDF, Seite 2-4).