Der gefährliche Traum vom Goldlöckchen

«Wir dürfen den enormen geldpolitischen Schock, den die Zentralbanken auf die Weltwirtschaft ausüben, nicht unterschätzen», schreibt Nikolaj Schmidt, internationaler Chefökonom bei T. Rowe Price.
«Wir dürfen den enormen geldpolitischen Schock, den die Zentralbanken auf die Weltwirtschaft ausüben, nicht unterschätzen», schreibt Nikolaj Schmidt, internationaler Chefökonom bei T. Rowe Price.

«Das Jahr 2023 begann grossartig: Die Preise von Vermögenswerten steigen, und während sich die finanziellen Rahmenbedingungen aufhellen, träumen die Anleger von einer Rückkehr der Goldlöckchen-Wirtschaft. Stattdessen könnte die etwas unberechenbarere Schwester von Goldlöckchen zu Besuch kommen», schreibt Nikolaj Schmidt, internationaler Chefökonom bei T. Rowe Price.

09.03.2023, 15:13 Uhr

Redaktion: sw

Das Goldlöckchen-Szenario hat nichts mit dem Märchen von Goldlöckchen zu tun, in der es das Haus der Bären im Wald besucht, sondern bezieht sich auf ein Wirtschaftswachstum, dass weder zu hoch noch zu niedrig ist. Für die USA bedeutet dies, dass die US-Notenbank die Zinssätze nicht wesentlich anheben muss, während gleichzeitig gute Chancen bestehen, dass die Unternehmenseinkünfte wachsen können.

«Obwohl wir Anzeichen von Marktoptimismus sehen, glauben wir nicht, dass wir uns in einem Goldlöckchen-Umfeld befinden. Aus unserer Sicht hat Goldlöckchen den Wald schon lange verlassen und wird wahrscheinlich erst nach der nächsten Rezession wieder auftauchen. Stattdessen könnte die etwas unberechenbarere Schwester von Goldlöckchen zu Besuch kommen, und sie könnte für Ärger sorgen», glaubt T. Rowe Price im jüngsten Ausblick.

Erholung aus den Büchern gestrichen

Auf den ersten Blick scheine die Aktienmarktrallye im Januar aus den Lehrbüchern zu stammen. Die Risikoanlagen entwickeln sich gut, da die Straffung der Geldpolitik zu Ende geht, aber die Frage bleibe, ob die Weltwirtschaft auf eine Rezession zusteuere. Kurzfristig verringerten folgende Faktoren die Wahrscheinlichkeit einer Rezession: «Desinflation, die Wiedereröffnung Chinas und ein starker Rückgang der Gaspreise in Europa.»

Disinflation liegt vor, wenn die Inflation vorübergehend abflacht und der Preisanstieg zwar nachlässt, aber auf einem hohen Niveau bleibt. Vieles deute darauf hin, dass «wir uns bereits in einer Phase der Disinflation befinden beziehungsweise in eine solche eintreten.» Die disinflationären Kräfte seien schon seit einiger Zeit am Werk, was auf eine Normalisierung der Lieferketten zurückzuführen sei, aber auch die globale Wachstumsverlangsamung spiele eine Rolle. Die Normalisierung der Lieferketten habe die Engpässe gemildert und die Produktion wieder in Gang gebracht, während die Verlangsamung den Druck von den Rohstoffpreisen und bis zu einem gewissen Grad auch vom globalen Arbeitsmarkt genommen habe.

«Vor allem in den USA scheint die Rohstoffinflation nachzulassen, ebenso wie der Lohndruck. Ich bin überzeugt, dass die Rohstoffinflation zurückgeht, aber was den Arbeitsmarkt und den Lohndruck angeht, bin ich noch nicht sicher. Die Arbeitsmärkte laufen nach wie vor heiss, dass bedeuet, es bedarf einer längeren Abschwächung und wahrscheinlich eines erheblichen Anstiegs der Arbeitslosigkeit, bevor der Lohndruck ausreichend nachlassen wird», formuliert der Chefökonom. Für die Entwicklung der Finanzmärkte sei der vielleicht wichtigste Aspekt der Disinflation, dass der Gouverneur der US-Notenbank, Jerome Powell, zugegeben habe, dass auch er sie beobachtet hat. «Dies könnte die Erwartungen der Anleger, dass die Zinserhöhungen bald enden werden, enttäuschen.»

Rückenwind aus China

«Die Erwartungen an China und seine Wiedereröffnung waren hoch, aber wenn wir uns die Geschwindigkeit ansehen, mit der sich die Wirtschaft wieder erholt hat, dann haben wir Anleger eine Überraschung erlebt, und es wird noch mehr kommen.» Die chinesische Führung habe einen neuen pragmatischen Kurs eingeschlagen, und das bedeute, dass das Risiko neuer Shutdowns in China, die die Wirtschaft ausbremsen, praktisch nicht mehr gegeben ist. Darüber hinaus pumpt die chinesische Führung weiterhin Geld in die chinesische Wirtschaft. So dass von der zweitgrössten Volkswirtschaft der Welt nun ein starker Rückenwind auf die Weltwirtschaft und die Nachfrage ausgehe.

Der milde Winter hat dazu geführt, dass die europäische Wirtschaft bisher gut durch den Winter gekommen ist. Dadurch hat sich das Risiko von Energierationierungen in diesem und auch im nächsten Jahr verringert. Die niedrigeren Energiekosten kurbeln den Verbrauch der Europäer an und tragen dazu bei, die dunklen Wolken zu vertreiben, die sich sonst über den europäischen Unternehmen zusammengebraut hatten.

Goldlöckchen oder nicht?

«Es ist leicht, dem Traum vom Goldlöckchen-Szenario zu verfallen, in der wir sowohl eine stagnierende Inflation als auch ein Wirtschaftswachstum haben, aber ich gehöre nicht zu denen, die diesmal an das Märchen glauben. Trotz der Frühindikatoren, die auf eine kurzfristige Verbesserung der Wirtschaft hindeuten, würde ich behaupten, dass das Märchen eher ein Schreckensbild ist. Der Markt für Risikopapiere wie Aktien kann sich kurzfristig weiterhin zufriedenstellend entwickeln, aber längerfristig sagen mir meine Modelle, dass eine unheimliche Wachstumsverlangsamung bevorsteht. Wir dürfen den enormen geldpolitischen Schock, den die Zentralbanken auf die Weltwirtschaft ausüben, nicht unterschätzen.»


So würden die Europäische Zentralbank und die Federal Reserve in diesem Jahr die Zinssätze weiter auf ein Niveau anheben, das zuletzt vor der globalen Finanzkrise erreicht wurde. Damals war China dabei, sich in die Weltwirtschaft zu integrieren, was einen erheblichen Nachfrageeffekt für die anderen aufstrebenden Volkswirtschaften in der Region mit sich brachte. Gleichzeitig erlebte die Welt einen US-Immobilienmarkt mit enormen Wachstumsraten, was wiederum die weltweite Nachfrage ankurbelte.

Dies stehe im Gegensatz zu heute, «wo wir eine sehr straffe Geldpolitik haben, aber mit Nachfrageimpulsen, die nicht annähernd so stark sind. Die Realität sieht heute so aus, dass die Zentralbanken die Geldpolitik in einem solchen Ausmass straffen, dass die Liquidität, die die Erholung der Aktienmärkte gestützt hat, bald versiegen wird. Wir haben die Auswirkungen der geldpolitischen Straffung bereits gesehen, aber es wird noch mehr kommen. In der Tat haben die Zentralbanken einen Anreiz, die Geldpolitik zu stark zu straffen.»

Zentralbanken auf dem Weg zu einer harten Landung

Im Mittelpunkt der Gleichung steht der Arbeitsmarkt. Entgegen der landläufigen Meinung konnte das hohe Beschäftigungsniveau der hohen Inflation standhalten, und das bereitet den politischen Entscheidungsträgern in aller Welt Kopfzerbrechen. Als Zentralbank kann man entweder die Zinsen weiter anheben und in eine Rezession geraten, die dem Arbeitsmarkt sicherlich die dringend benötigte Atempause verschaffen wird, oder man kann den Fuss vom Zinspedal nehmen, bevor die Inflation endgültig besiegt ist. Diese Strategie erhöht die Chancen, eine Rezession zu vermeiden, aber wenn die Beschäftigung nicht gesenkt wird, besteht die unmittelbare Gefahr, dass das Inflationsmonster zurückkehrt. Das gibt den Zentralbanken einen Anreiz, die Geldpolitik weiter zu straffen. Niemand kann mit dem Finger auf eine Zentralbank zeigen, die eine Rezession herbeiführt, sofern die Inflation auf ein akzeptables Niveau sinkt. Das Gegenteil gilt für eine Zentralbank, der es aus Ungeduld nicht gelingt, die Inflation zu senken. Hier wird man sagen, dass sie an ihrer Aufgabe gescheitert ist.

«Wenn Sie mich fragen, ist es wahrscheinlich, dass die Zentralbanken die Zinsen zu stark anheben. Und so gerät das Goldlöckchen-Szenario ausser Reichweite, um auf die unsprüngliche Metapher zurückzukommen. Wenn man so will, hat uns das Goldlöcken alleine im Wald zurückgelassen. Wälder sind oft gefährliche Orte, wenn man sich in Märchen wiederfindet, und so ist es derzeit auch an den Finanzmärkten. «Wenn die Zentralbanken jedoch Geduld haben, werden wir am Ende entkommen.»

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