«Innovationen, Konflikte und ein seltsames Verschwinden»

Erik Knutzen, Chief Investment Officer – Multi-Asset Class bei Neuberger Berman. (Bild pd)
Erik Knutzen, Chief Investment Officer – Multi-Asset Class bei Neuberger Berman. (Bild pd)

«Schon länger rechneten wir mit steigender Marktvolatilität. Letzte Woche passierte eine Menge, das uns wohl den Rest des Sommers und auch danach noch beschäftigen dürfte», schreibt Erik Knutzen, Chief Investment Officer – Multi-Asset Class bei Neuberger Berman.

06.08.2024, 16:50 Uhr
Aktien | Obligationen

Schwache Arbeitsmarktzahlen in den USA – offene Stellen, Neueinstellungen, Arbeitslosengeldanträge, Arbeitslosenquote und Beschäftigung ausserhalb der Landwirtschaft – bestärkten die Investoren darin, dass die Konjunktur nachlässt, und weckten Zweifel an der erhofften weichen Landung. Sechs der sieben «Magnificent Seven», haben ihre Quartalszahlen schon vorgelegt. Meta und Apple übertrafen die Erwartungen, aber Microsoft und Amazon haben letzte Woche enttäuscht. All das löste einen heftigen Ausverkauf am Aktienmarkt aus. Anleiheninvestoren rechnen jetzt mit drei Zinssenkungen der Fed bis zum Jahresende.

Sie signalisierte deutlicher denn je, dass sie den Leitzins im September senken wird – und wurde dafür kritisiert, dass sie es nicht schon jetzt getan hat. Auch die Bank of England hat sich bewegt, mit einer Senkung um 25 Basispunkte. Die Bank of Japan hat unterdessen zum zweiten Mal erhöht und eine weitere Straffung angedeutet. Japan normalisiert die Geldpolitik allmählich, da die Inflation langsam zurückkehrt. Allerdings löste die Notenbank damit heftige Schwankungen japanischer Aktien und des Yen aus.

Unterdessen geht der ereignisreiche US-Wahlkampf weiter, und im Nahen Osten könnte der Krieg eskalieren. Auch das kann für Volatilität, höhere Rohstoffpreise und neue Inflationsängste sorgen. «Wir beobachten all diese Entwicklungen genau, da in den nächsten Tagen noch viel passieren kann», erläutert Knutzen.

Revolutionäre Technologien

So schwer es fallen mag – es kann nur guttun, wenn man gelegentlich etwas Abstand gewinnt. Im Sommerurlaub hat man die Zeit, ein gutes Buch zu lesen – eines mit einer langfristigen Perspektive statt der täglichen Schlagzeilen. Letztes Jahr empfahl ich einen Titel über die Brooklyn Bridge, ein Wunder der Ingenieurskunst. Dieses Jahr ist es The Mysterious Case of Rudolf Diesel vom amerikanischen Historiker Douglas Brunt. Auch hier geht es um einen Klassiker der Technik.

Brunt berichtet über den Erfinder des Dieselmotors, sein Leben und seine Zeit, seine Arbeit und sein Verschwinden. Das spannende Buch ist für Geschichtsfans und Technikenthusiasten gleichermassen lesenswert – und nicht zuletzt für alle, die Verschwörungsgeschichten lieben.

Man erfährt viel über die Natur disruptiver Technologien, vor allem wenn sie gleichermassen grossen Nutzen stiften und grossen Schaden anrichten können, über negative Externalitäten und den Preis revolutionärer Fortschritte.

Zielkonflikte wie aktuell

Brunt beschreibt genau, wie Thermodynamik und Energieeffizienz Diesel in seinem Studium bei Kühlpionier Carl von Linde fasziniert haben. Diesels bahnbrechende Neuerung bestand darin, mit der Hitze, die der Viertaktmotor in der Verdichtungsphase erzeugt, den Treibstoff zu entzünden. Zündkerzen und hochraffiniertes Benzin wurden überflüssig.

Dieser Ansatz scheint heute sehr modern. Mehr und mehr versucht man, anderenfalls verlorene Energie einzufangen und nutzbar zu machen – sei es die Abwärme von Fabriken oder die Bewegungsenergie, die beim Bremsen eines Autos entsteht. Ausserdem interessieren wir uns für «freie» Energiequellen – Sonne und Wind, Gezeiten und Schwerkraft, um von fossilen Brennstoffen loszukommen.

Aber Diesels Idee brachte negative Externalitäten und schwierige Zielkonflikte mit sich, genau wie die heutige Energiewende.

Dieselmotoren sind energie- und treibstoffeffizienter als Benzinmotoren, setzen nicht so viel Treibhausgas frei und benötigen weniger Rohstoffe. Aber diese Nachhaltigkeitsgewinne haben ihren Preis: Dieselkraftstoff ist weniger stark raffiniert, sodass mehr Feinstaub freigesetzt wird als bei Benzin. Selbst moderne Dieselmotoren mit Abgasreinigungssystemen führen zu einem Zielkonflikt zwischen der Senkung der Treibhausgasemissionen und der Verringerung eher lokal wirkender Schadstoffe. Viele kommunale und nationale Regierungen bemühen sich um ein Gleichgewicht.

Ähnlich ist es bei unserem aktuellen Klimaschutzansatz. Er erfordert eine Energie- und Elektrizitätsnetzinfrastruktur, für die viele Rohstoffe gebraucht werden. Erneuerbare Energien dürften am weltweiten Rohstoffmangel und den negativen Folgen der Rohstoffförderung nichts ändern, da neue ökologische und soziale Belastungen entstehen. Auch dafür muss eine Lösung gefunden werden, zumal die Energienachfrage bei einer höhere Energieeffizienz steigen dürfte.

Die Geschichte von Prometheus

Diesel war nicht nur ein innovativer Ingenieur. Er machte sich auch Gedanken über den Nutzen – und mögliche Schäden – seiner Erfindung. Er kannte die Sage von Prometheus, dem mythologischen Feuerbringer. Auch Diesels Erfindung konnte Maschinen antreiben und für Wohlstand sorgen, aber auch die Kriegsführung erleichtern.

Diesels Reaktion: Er vergab grosszügig Lizenzen, um seine Erfindung allgemein verfügbar zu machen. Als dann auch das Militär seinen Motor nutzen wollte und Diesel vor dem Ersten Weltkrieg zwischen die Fronten geriet, tat er alles, damit nicht ein Land technologisch die Oberhand gewann.

1913 wollte er von Frankreich aus den Ärmelkanal überqueren und verschwand bei der Überfahrt. Nicht jeder glaubt Brunts Theorie dazu. Auf jeden Fall waren die Umstände mysteriös. Diesel wollte in London eine Firma gründen, um der britischen U-Boot-Flotte zu helfen. Kaiser Wilhelms Pläne mit seinem Motor machten ihm nämlich zunehmend Sorgen.

Aber der Kaiser ist in diesem Thriller nicht der einzige Verdächtige. Manche meinten, dass John D. Rockefeller, Gründer von Standard Oil, verhindern wollte, dass Diesels energiesparende Erfindung die Weltnachfrage nach Öl und Benzin dämpft. Wer auch immer der Täter war – moderne Investoren stehen vor dem gleichen Dilemma wie Diesel vor 100 Jahren.

Vergleichbar zu heute

Im 21. Jahrhundert können hochentwickelten Microchips Industrie- als auch Militärdaten verarbeiten und die Künstliche Intelligenz voranbringen. Gentechnik kann medizinische Behandlungen und die Lebensmittelproduktion weltweit verbessern, aber auch als biologische Waffe eingesetzt werden. Fossile Brennstoffe und ihre Hersteller haben in der Energiewende eine wichtige Funktion, können die Dekarbonisierung aber zugleich erschweren.

Ausserdem verursacht es Risiken und höhere Kosten, dass sich viele Schlüsseltechnologien von heute in den Händen von ein oder zwei dominierenden Unternehmen (ähnlich wie Standard Oil) oder ein oder zwei Supermächten befinden. Das gilt für Gentechnologie, Impfstoffe, GLP-1-Agonisten, Halbleiter, Halbleiterherstellung und Künstliche Intelligenz gleichermaßen.

Der Interessenausgleich zwischen Kapitalgebern, Erfindern und Unternehmen auf der einen und dem Sicherheitsbedürfnis von Menschen und Ländern und der volkswirtschaftlichen Effizienz auf der anderen Seite dürfte in der Zeit der Hypertechnologie schwieriger werden. Werden Regierungen und Investoren ein nicht kooperatives Nullsummenspiel spielen? Oder folgen sie doch den Idealen von Diesel und nutzen die neuen Technologien zum Wohle der Menschheit, um Industrie, Lebensmittel-, und Energieversorgung, Datenschutz und Gesundheitswesen zu verbessern?

Fortschritt

Als Investoren müssen wir auch Realisten sein. «Wir müssen wissen, dass Zielkonflikte unvermeidbar und Opfer unverzichtbar sind, und dass jeder Fortschritt seinen Preis hat. Der Krieg in der Ukraine, die wachsenden Spannungen wegen Taiwan und letzte Woche die Eskalation im Nahen Osten zeigen uns leider, dass hohe Ideale und wirtschaftlicher Fortschritt oft auf die harten Realitäten der Weltpolitik treffen, wie schon vor 100 Jahren. Rudolf Diesels Motor wurde weder zum Monopol einer Supermacht noch hat ihn die missgünstige Ölbranche verhindert. Diesel selbst musste aber hart für dessen Erfolg arbeiten und vielleicht einen hohen Preis zahlen», erläutert der Experte.

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