13.11.2024, 13:49 Uhr
«Das grosse Interesse an risikoreichen Titeln könnte bis zum Jahresende anhalten. Aber dann wird es schwieriger», schreibt Shannon Saccocia, Chief Investment Officer bei NB Private Wealth.
Europas Börsen haben sich von den Freitagsverlusten erholt. Mit Joe Bidens Rückzug – auch wenn die neue Kandidatur noch nicht feststeht – ist ein Faktor verschwunden, der die Märkte verunsichert hat.
Ein Ereignis wie der Entschluss des amtierenden US-Präsidenten, auf die Wahl, wo es für ihn um eine zweite Amtszeit ging, zu verzichten, würde normalerweise Unsicherheit und Volatilität an den Märkten hervorrufen, bemerkt ein Analyst. Dieses Mal aber ist es anders, zumindest kurzfristig.
Der Schweizer Blue-Chip-Index SMI stieg zu Wochenbeginn gut 1 Prozent auf 12'311, der Dax rückte um 1,6 Prozent auf 18'448 vor. Auch der Bitcoin hat auf 68'000 Dollar weiter Boden gutgemacht (siehe sep. Artikel auf investrends). Und die US-Märkte eröffneten freundlich.
Dass der altersschwache Joe Biden nach längerem Zögern den Weg frei macht und Vizepräsidentin Kamala Harris als Kandidatin der Demokraten vorschlägt, mindere die Chancen von Herausforderer Donald Trump, war da und dort in Marktkommentaren zu lesen. Europas Märkte schnauften deshalb auf.
Man kann es aber auch umgekehrt sehen, und dieser Aspekt verfängt fast mehr. Die Chancen des republikanischen Präsidentschaftsanwärters, im kommenden Januar ins Weisse Haus einzuziehen, sind durch die neue Situation gestiegen.
Kamala Harris, sofern sie den zum Zug kommt, gilt als schwächliche Figur. Im Vizeamt hat sie wenig Stricke zerrissen. Ob sie Trump in den noch verbleibenden Monaten die Stirne bieten könnte, ist zweifelhaft. Die gleiche Frage muss man sich aber auch bei anderen Kandidaten der Demokraten stellen. Die Zeit für eine überzeugende und erfolgreiche Kampagne ist kurz.
Die Chancen stehen auch deshalb schlecht, weil Donald Trumps schwungvoller Auftritt am Parteikonvent der Republikaner in der vergangenen Woche hat nicht nur seine Anhänger begeistert hat. Auch unter unentschlossenen Wählerinnen und Wähler hat er Eindruck hinterlassen.
Trumps Rezepte für ein besseres Amerika mögen holzschnittartig bis naiv und seine Versprechen hohl bis unrealistisch sein. Aber er legt den Finger auf die wunden Punkte, die die breite Bevölkerung und die Wirtschaft des Landes beschäftigen, ja schmerzen, und man sich von der politischen Führung zumindest Linderung wünscht.
«An der Ausgangslage ändert sich wenig. Trump bleibt Favorit für einen Sieg im November», stuft Christian Brändli, Senior Economist North America der Zürcher Kantonalbank, die Lage ein.
Die Experten der Zürcher Kantonalbank ändern daher nichts am aktuellen Szenario. Es bestehe nach wie vor grosse Unsicherheit darüber, wie Trumps Politik im Detail aussehen werde. Würde beispielsweise der vorgeschlagene allgemeine Importzoll von 10 Prozent für alle Waren und alle Länder gelten? Oder gäbe es Ausnahmen für einzelne Güter oder enge Handelspartner?
«Die Auswirkungen auf die Realwirtschaft hängen wiederum davon ab, ob die Einnahmen zum Defizitabbau verwendet werden oder über Steuersenkungen in die Wirtschaft zurückfliessen», hält Ökonom Brändli fest.
Wichtige Punkte in Trumps Programm, auch wenn Details fehlen, dürften grundsätzlich Wirtschaft und Börse gefallen: niedrigere Steuern, weniger Regulierung, Schutz für den Werkplatz, mehr Wohlstand.
Unter dem Schlagwort «Trump Trade» haben sich die Märkte mit seinen Ideen anzufreunden begonnen. Die Kursfortschritte in den letzten Wochen und Monaten sind Zeugnis davon. Und wenn es Wallstreet gut geht, geht es auch den übrigen Börsen gut.
Dass Trumps Programm nicht ohne ein weiteres Aufblähen der jetzt schon bedrohlich hohen Staatsschulden auskommen wird, kümmert aktuell wenig. Selbst der US-Bondmarkt hat sich nach Bidens Verzicht freundlich gezeigt: die Rendite der 10-jährigen US-Treasurybonds sank um 1.6 Basispunkte auf 4,221 Prozent; der Dollar rührte sich kaum.
Womöglich hat die «nachsichtige» Reaktion der beiden Marktgrössen auch damit zu tun, dass unabhängig davon, wer ins Weisse Haus ziehen wird, die öffentliche Verschuldung der USA sowieso weiter steigen wird. Ellis Phifer, Marktstratege von Raymond James, meint dazu gegenüber Reuters: «Wir haben zwei verschuldungspolitisch unverantwortliche Parteien.» Am Ende des Tages würde das Schuldenthema jedoch negativ auf den Bondmarkt durchschlagen, sagt er.
Die neue Ausgangslage um die US-Präsidentschaft hat noch eine andere Komponente. Bidens Verzicht und die damit zusammenhängende Deblockade seiner Partei gewährt den Demokraten neuen Spielraum bei den gleichzeitig stattfindenden Kongresswahlen.
Eine Dominanz der Republikaner in beiden Kammern, wie sie sich in den vergangenen Wochen abgezeichnet hat, ist plötzlich wieder in Frage gestellt. «Wenn wir durch die neue Situation eine geteilte Regierung bekommen, wäre das ein Vorteil für die Märkte», bemerkt ein US-Stratege. Ein Republikaner im Weissen Haus und eine Mehrheit der Demokraten in Senat und Repräsentantenhaus, oder umgekehrt.