13.11.2024, 13:49 Uhr
«Das grosse Interesse an risikoreichen Titeln könnte bis zum Jahresende anhalten. Aber dann wird es schwieriger», schreibt Shannon Saccocia, Chief Investment Officer bei NB Private Wealth.
«Zinseszinsen sind das achte Weltwunder», sagte Albert Einstein. Im vergangenen Jahrzehnt standen niedrige bis negative Leitzinsen diesem Wunder im Weg. Inzwischen sind die Zinsen gestiegen. Laut Anleihen-Ausblick 2024 von Candriam bieten sich attraktive Einstiegspunkte, wie sie zuletzt 2011 zu beobachten waren.
«Die Renditen sind zurück», schreiben Philippe Noyard, Global Head of Fixed Income und Charudatta Shende, Head of Client Portfolio Management Fixed Income des französischen Vermögensverwalters Candriam. Ob Geldmarkt, Investment Grade, Hochverzinsliche oder Staatsanleihen – an den Anleihemärkten lockten viele attraktive Möglichkeiten, selbst bei geringem Risikoappetit:
Zwar erscheinen die Anleihemärkte für die Bondexperten besonders einladend, doch es lauern idiosynkratische Risiken, die Anleger erkennen müssen: «Die Renditen mögen wieder zurück sein, doch das Ausfallrisiko bleibt asymmetrisch. Ohne Unterstützung durch die Zentralbanken sind Fundamentaldaten wieder die Grundlage für die Bepreisung von Unternehmens- und Staatsanleihen. Anleihemärkte, die noch vor Kurzem von den Zentralbanken tangiert wurden, werden jetzt wieder stärker durch Konjunkturdaten, Bilanzen und Geschäftsmodelle beeinflusst. Hinzu kommt die zunehmend grössere Bedeutung von ökologischen, sozialen und Governance-Faktoren für das Kreditrisiko.»
Die Refinanzierungskosten sind für die Unternehmen erheblich gestiegen. «Deswegen sind wir der Ansicht, dass die aktuelle Höhe der Spreads von Euro-Investment-Grade-Anleihen (145 Basispunkte) und globalen High-Yield-Anleihen (420 Basispunkte) diesen Risiken nicht gerecht wird. Im High-Yield-Segment rechnen wir mit einer Ausweitung der Spreads auf rund 500 Basispunkte und bedeutender Volatilität im Jahr 2024. Bei den Ausfallraten erwarten wir einen leichten Anstieg auf über 5 Prozent», schreiben die Experten in ihrem Ausblick.
Trends im Zusammenhang mit der Digitalisierung, Automatisierung und künstlichen Intelligenz wirken sich erheblich auf die Geschäftstätigkeit der Unternehmen aus. Die Fähigkeit der Emittenten, sich anzupassen, werde entscheidend sein. Grosse Unternehmen mit einem stark diversifizierten Geschäft, das nicht von den Endmarktverbrauchern abhängt, dürften weniger unter einer Konjunkturverlangsamung leiden. Das neue Umfeld komme Unternehmen mit geringem Fremdkapitalanteil und gut vorhersehbaren Cashflows zugute.
Es gebe jedoch auch Emittenten, für die die Tilgungspläne eine grössere Belastung darstellen. Sie sind mit der Tatsache konfrontiert, ihre Schulden zu höheren Zinsen refinanzieren zu müssen. Das Investment-Grade-Segment werde zwar insgesamt kaum von einer «Maturity Wall» betroffen sein. Doch auf den High-Yield-Bereich könnte 2025 und 2026 eine immense Refinanzierungshürde zukommen.
Bei staatlichen Emittenten stehen für Noyard und Shende ebenfalls zunehmend Wirtschafts- und Schuldenprofile im Fokus, und spezifische Risiken werden auch in diesem Bereich wieder eine Rolle spielen. Die Haushaltspolitik und politische Risiken würden wieder in den Vordergrund rücken. Tatsächlich achteten Marktteilnehmer jetzt aufmerksamer auf die Staatshaushalte und die Auswirkungen höherer Zinsen auf die Schuldentragfähigkeit. In der Vergangenheit wurde hauptsächlich zwischen Kern- und Peripherieländern unterschieden.
«Doch wir rechnen damit, dass es in der Zukunft ganz anders aussieht. So verzeichnen beispielsweise portugiesische Anleihen mittlerweile niedrigere Spreads als französische, nachdem Portugal eine Steuerreform durchgeführt hat. Ausserdem rechnen wir im kommenden Jahr mit erheblicher Volatilität infolge der anstehenden Wahlen in mehreren grossen Ländern, unter anderem in den USA, Grossbritannien, Indien und Indonesien.»
Eine zunehmende Zahl von Schwellenländern werde sicherlich Unterstützung durch den IWF benötigen, der seine Hilfen wahrscheinlich von den Fundamentaldaten und vom politischen Willen abhängig macht. Einige Länder wie beispielsweise Ghana, Sambia und Sri Lanka kämen mit ihrer Restrukturierung recht gut voran, während andere notleidende Länder keine Fortschritte machen.
Nachhaltigkeitskennzahlen haben mittlerweile einen entscheidenden Einfluss auf die Beurteilung der Kreditwürdigkeit von Staaten, da der Klimawandel erhebliche Auswirkungen auf die Wirtschaft hat. Indien kann zum Beispiel ein starkes Wachstum vorweisen, leidet aber unter der Umweltverschmutzung: In einigen gesundheitliche Belastung tritt auch bereits in Erscheinung. Diese Elemente werden sich langfristig auf das allgemeine Schuldenprofil eines Landes auswirken.
Die Anleihemärkte würden derzeit einige Renditechancen bieten, schreiben die Bondexperten. Der Carry von Anleihen ist nicht nur für die Zinserträge wichtig, sondern auch für die Risikoabsicherung des Portfolios. Falls sich die Spreads in einem bestimmten Anleihesegment ausweiten, könne der Carry Anleger schützen, indem er den Rückgang des Marktwerts teilweise abfängt.
Das neue Zinsumfeld – oder besser gesagt, die Rückkehr zu einem normalen Zinsumfeld – spreche für eine diversifizierte Anleihen-Allokation. Denn jedes Segment bietet Zinserträge und spielt zudem eine bestimmte Rolle im Portfolio.
Um diese Chancen zu nutzen, müssten die Anleger jedoch die Risiken verstehen und analysieren, denen bestimmte Emittenten unterliegen. Dieser «Bondpicker-Markt» erfordert eine sorgfältige Auswahl der Emittenten und Titel, um risikobereinigte Erträge zu erzielen.
«Es ist mehr denn je nötig, sowohl staatliche als auch Unternehmensemittenten rigorosen und disziplinierten Bottom-up-Analysen zu unterziehen, um ihre Kreditwürdigkeit zu beurteilen und die spezifischen Risiken der jeweiligen Titel zu identifizieren. Dazu zählen auch ESG-Risiken. Ihre Einbeziehung für alle Fixed-Income-Märkte ist eine Voraussetzung für ein umfassendes Verständnis der Schuldentragfähigkeit – in Zukunft ein wesentlicher Faktor innerhalb von Anleiheportfolios», schreiben die Anleiheexperten von Candriam.
Sie schliessen damit, dass Einsteins Beobachtung noch weiter geht: «Zinseszinsen sind das achte Weltwunder. Wer sie versteht, verdient sie. Wer sie nicht versteht, der zahlt sie.»