22.11.2024, 13:09 Uhr
Die Kerninflation in Japan lag im Oktober bei 2,3 Prozent, das ist etwas weniger als noch im September. Aber minimal mehr als erwartet worden war.
Bevor die Märkte kürzlich ihre Erwartungen revidierten, schienen sie blindes Vertrauen in die Zusagen der Zentralbanker zu haben. «Doch wie die monetäre Geschichte immer wieder zeigt, können Zentralbanker vernünftigerweise keine Versprechungen machen, die über einige Monate hinausgehen», schreiben Florence Pisani, PhD, Global Head of Economic Research, und Emile Gagna, Economist bei Candriam.
«Es wird noch einige Zeit dauern, bis die Inflation wieder bei 2 Prozent liegt» erklärte J. Powell, Vorsitzender der Federal Reserve, im vergangenen Juni; «Wir können noch keinen Sieg verkünden» pflichtete ihm seine Kollegin Christine Lagarde von der Europäischen Zentralbank ein paar Wochen später bei. Trotz des anhaltenden Rückgangs der Inflation blieb die Botschaft der Zentralbanken auf beiden Seiten des Atlantiks über viele Monate hinweg unverändert: Die Zinsen werden noch «lange» hoch bleiben.
Obwohl die Zentralbanken ihren Ton nicht wirklich geändert haben, haben die Marktteilnehmer ihre Zinserwartungen stark revidiert: Sie rechnen nun, dass die Leitzinsen auf beiden Seiten des Atlantiks bereits zu Beginn des Frühjahrs gesenkt werden. Auf längere Sicht bleiben sie jedoch sehr vorsichtig und gehen davon aus, dass die Leitzinsen bis Ende 2027 in den USA knapp unter 4 Prozent und in der Eurozone knapp über 2,5 Prozent liegen werden. Sind diese Erwartungen angemessen?
Bevor die Märkte kürzlich ihre Erwartungen revidierten, schienen sie blindes Vertrauen in die Zusagen der Zentralbanker zu haben. Doch wie die monetäre Geschichte immer wieder zeigt, können Zentralbanker vernünftigerweise keine Versprechungen machen, die über einige Monate hinausgehen.
Als die Federal Reserve im August 2003 versprach, eine straffe Geldpolitik für eine «beträchtliche Zeit» beizubehalten, gab es viele Fragen zu diesem Zeitrahmen: Ging es um einige Monate, mehrere Quartale oder sogar Jahre? Fünf Monate später wurden diese Worte geschickt aus der geldpolitischen Erklärung entfernt, um die Märkte auf die nächste Zinserhöhung vorzubereiten... die tatsächlich Ende Juni 2004 stattfand.
Der «beträchtliche Zeitraum» dauerte also «nur» zehn Monate. Das Versprechen im März 2009, die Zinsen für einen «längeren Zeitraum» niedrig zu halten, würde tatsächlich viel länger dauern, doch die Auswirkungen der Finanzkrise waren, wie man sich erinnern sollte, beispiellos. Im August 2011 wurde der «längere Zeitraum» auf «mindestens bis Mitte 2013», schliesslich «bis Mitte 2015» verlängert. Letztendlich hob die Fed ihre Zinsen erst im Januar 2016 an. Diesmal hat die Fed ihre Zinsen ganze sieben Jahre lang niedrig gehalten.
Diese kurze Zusammenfassung zeigt, dass ein mit den Begriffen «beträchtlich», «länger» oder «lang» beschriebener Zeitraum sehr unterschiedlich ausfallen kann. Es ist für Zentralbanken sogar sicherer, vage bedingte Versprechen abzugeben, ähnlich wie das, was die EZB-Präsidentin Ende August gemacht hat: Die Zentralbank wird ihre hohen Zinsen «so lange wie nötig» beibehalten.
Die Interpretation von Reden der Zentralbanken in dem Versuch, mehrere Quartale im Voraus die künftige Geldpolitik abzulesen, ist daher vergeblich. Man sollte sich vielmehr fragen, welche Bedingungen die Zentralbanken dazu veranlassen könnten, ihre Geldpolitik zu lockern. Ihr Ziel heute ist es, die Inflation wieder auf ihr 2 Prozent-Zielniveau zu bringen, was sowohl in Europa als auch in den Vereinigten Staaten eine Entspannung auf dem Arbeitsmarkt erfordert. Ohne einen Schock, der die Volkswirtschaften in eine Rezession stürzen würde, bedeutet das, dass das Wachstum für ein oder zwei Jahre unter sein Potentialniveau fallen muss.
Vermutlich müsste das Wachstum in den USA 2024 unter 1,5 Prozent und in der Eurozone unter 0,5 Prozent sinken, damit die Zentralbanken eine weniger restriktive Geldpolitik erwägen. Ist diese Bedingung erfüllt, könnte eine gewisse Lockerung der Geldpolitik erfolgen. Aber auch hier ist es nicht einfach, das «normale» Niveau der Zentralbankzinsen einzuschätzen, da «normal» im Zeitverlauf unterschiedlich hoch sein kann und vor allem von den Inflationserwartungen der Wirtschaftsakteure abhängt. Abhängig davon, ob die für die Folgejahre erwartete Inflation 2 Prozent oder 4 Prozent beträgt, sind mit einem Nominalzins von 4 Prozent unterschiedliche Einschränkungen verbunden.
Wenn es den Zentralbanken tatsächlich gelingt, die Inflation auf ihr Ziel zu senken, erscheint ein nominaler Leitzins in den USA bei etwa 3,5 Prozent durchaus angemessen; in Europa liegt dieser Wert wahrscheinlich eher bei rund 2,5 Prozent. In dieser Hinsicht scheint die Abwärtskorrektur der Markterwartungen seit Anfang November in die richtige Richtung zu gehen, auch wenn viele Marktteilnehmer sich immer noch des Risikos einer Rezession in den nächsten Jahren nicht bewusst sind.
Ein letztes Argument spricht mittelfristig für niedrigere kurzfristige Zinssätze. Seit der «Grossen Finanzkrise» spielten die Bilanzen der Zentralbanken eine sehr spezielle Rolle in der geldpolitischen Steuerung: Sowohl die Federal Reserve als auch die EZB griffen auf quantitative Lockerungsmassnahmen zurück, die zu einer explosionsartigen Vergrösserung ihrer Bilanzsummen führten, von weniger als 1 Billion (in nationalen Währungen) Anfang 2005 auf fast 9 Billionen Anfang 2022. Jetzt versuchen sie jeweils in ihrem eigenen Tempo, ihre Bilanzen zu verkleinern. Insbesondere die wirtschaftliche Lage rechtfertigt den Einsatz unkonventioneller Massnahmen nicht mehr.
Für eine Verringerung der Bilanzsummen gibt es aber auch politische Argumente: Die Zentralbanken können zwar Verluste machen und mit negativem Eigenkapital arbeiten, aber eine Verringerung der seinerzeit zu hohen Preisen eingekauften Titel in der Bilanz würde ihnen die Rückkehr zur Profitabilität erleichtern. Zudem würde es den Zentralbanken helfen, ihre Unabhängigkeit zu bekräftigen. Im Falle der EZB ist schliesslich auch der rechtliche Aspekt wichtig: Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs von 2018 über die Rechtmässigkeit des PSPP (Public Sector Purchase Programme) unterstreicht den vorübergehenden Charakter der Programme zur quantitativen Lockerung.
Dies zwingt die EZB zwar nicht, das Volumen ihres Wertpapierportfolios zu reduzieren, aber sie ist verpflichtet, zumindest zu erklären, inwiefern es dazu beiträgt, das Ziel der Preisstabilität zu erreichen. Aber unabhängig von der Begründung führt das weitere Abschmelzen der Zentralbankbilanzen – manchmal als «quantitative Straffung» bezeichnet – zu höheren Laufzeitprämien und, bei ansonsten gleichen Bedingungen, zu niedrigeren kurzfristigen Zinsen. Insgesamt führen verkürzte Bilanzen zu einer Normalisierung der Geldpolitik: Nachdem die Zinskurve mehrere Jahre lang flach oder gar invertiert war, kann sie nun endlich wieder einen normalen Verlauf nehmen.