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Peer Steinbrück: «Die Schweiz hat richtige Lehren gezogen»

Peer Steinbrück ist immer noch für pointierte Aussagen bekannt. (Bild pd)
Peer Steinbrück ist immer noch für pointierte Aussagen bekannt. (Bild pd)

Der ehemalige deutsche Finanzminister Peer Steinbrück spricht am Finance Forum Zürich 2024 über die Lehren aus der Finanzkrise und blickt versöhnlich auf den Finanzplatz Schweiz. Allerdings sieht er im Interview beispielsweise die internationale Staatsverschuldung ausgesprochen kritisch, gerade auch im Euroraum.

03.09.2024, 12:17 Uhr
Interviews






Herr Steinbrück, Sie waren deutscher Finanzminister, als die weltweite Finanzkrise 2008 ausbrach. Was denken Sie, welche Lehren haben wir aus Weltfinanzkrise gezogen?

Peer Steinbrück: Wir haben 2008 eskalierend erlebt, wie uns das Mantra der Deregulierung von Finanzmärkten an den Abgrund geführt hat. Seitdem hat die Erkenntnis an Boden gewonnen, dass wir eine stärkere Regulierung brauchen, um die Finanzmärkte – und damit auch unsere Gesellschaften – gegen Krisen zu wappnen. Es wurde einiges in Gang gesetzt, um die Wiederholung einer solchen Bankenkrise zu verhindern, wenn ich an die gestiegenen Anforderungen an Eigenkapitalquoten und Liquiditätspuffer denke.

Woran denken Sie dabei?

In Europa wurde die Europäische Bankenunion gegründet, deren erste Säule sich auf eine einheitliche Aufsicht über die etwa 100 grössten europäischen Banken unter dem Dach der Europäischen Zentralbank erstreckt. Als zweite Säule wurde ein einheitlicher Mechanismus zur Abwicklung von Banken etabliert, mit dem verhindert werden soll, dass der Steuerzahler für die Risikoignoranz von Bankenmanagern haftet. Die dritte Säule soll auf eine gemeinsame europäische Einlagensicherung hinauslaufen. Aber der stehen – jedenfalls auf mittlere Sicht – Besonderheiten nationaler Einlagensicherungssysteme entgegen. Die Kritik, es seien keine Konsequenzen gezogen worden, teile ich nicht. Richtig bleibt, dass nicht genug geschehen ist, wenn ich an den weitgehend unregulierten Schattenbankensektor denke.

Die letzte Krise ist jetzt noch nicht lange her. Im März 2023 gingen etliche amerikanische Regionalbanken in Konkurs und die Schweizer Grossbank Credit Suisse musste von der einstigen Konkurrentin UBS übernommen werden. Warum konnten diese Vorfälle nicht verhindert werden?

Die Situation war nicht vergleichbar mit der Finanzkrise 2008/2009. Der Begriff der Regionalbanken täuscht zwar darüber hinweg, dass die betroffenen amerikanischen Banken teilweise sehr hohe Bilanzen aufwiesen und in Schwierigkeiten gerieten. Sie gerieten mit ihrem Geschäftsmodell in ein klassisches Fristentransformationsproblem, indem sie sich kurzfristig wegen massiver Kapitalabflüsse zu ungünstigen Zinsen refinanzieren mussten, während ihre ausgereichten Kredite längere Laufzeiten hatten.

Die amerikanische Bankenaufsicht hat dann sehr schnell eingegriffen und den US-Bankenmarkt wieder stabilisiert, sodass eine Erschütterungsdynamik verhindert werden konnte und die Vorfälle keine wesentlichen Auswirkungen auf das internationale Banken- und Finanzsystem hatten. Auch die Credit Suisse war ein sehr spezifischer Einzelfall mit einem – höflich ausgedrückt – besonderen Vorlauf.

Im Fall der Credit Suisse musste der Staat eingreifen, um einen Kollaps zu verhindern. Gibt es überhaupt Möglichkeiten, dass Grossbanken ohne Hilfe des Staates abgewickelt oder gerettet werden können?

Ich will mich da nicht verheben, aber die Anzeichen waren offensichtlich, dass die Credit Suisse bereits seit einiger Zeit in Schwierigkeiten steckte. Mehrere Vorfälle haben darauf hingedeutet, dass dort einiges korrekturnotwendig war. Wenn ich es richtig im Ohr behalten habe, gab es in der Schweiz durchaus kritische Stimmen, dass die Schweizer Bankenaufsicht nicht frühzeitiger und massiv eingegriffen hat.

Angenommen Sie wären Schweizer Finanzminister, würde Ihnen die neue Megabank UBS Kopfzerbrechen bereiten?
Ich kann mir schon vorstellen, dass einige Politiker nervös werden, wenn Sie die Grösse der UBS sehen. Durch die Mitgift der Credit Suisse ist die Bilanzsumme der UBS auf ein Mehrfaches des Bruttoinlandprodukts der Schweiz gestiegen. Man darf aber nicht vergessen, dass diese Bilanzsumme im globalen Massstab nicht herausragt. Die UBS ist eine international aufgestellte und orientierte Bank erster Güteklasse, doch ist ihre Bilanzsumme um 800 bis 1100 Milliarden Euro geringer als die der drei grössten europäischen Banken, von der Grössenordnung amerikanischer und chinesische Institute ganz zu schweigen.

Grösse ist nicht das Problem. Sie wird dann zum systemischen Problem, wenn eine solche Bank bestimmte Klumpenrisiken mit sich herumschleppt oder ein nicht tragfähiges Geschäftsmodell verfolgt. Von zentraler Bedeutung ist, dass die operativ und aufsichtsrechtlich zuständigen Personen dies sorgfältig beurteilen und Massnahmen einleiten oder veranlassen, um Risiken präventiv aus den Büchern zu entfernen und die Bilanzsumme gegebenenfalls zu verkürzen.

Wie sehen Sie generell den Finanzplatz Schweiz aufgestellt?

Ich glaube, die Schweiz hat richtige Lehren aus den früheren Skandalen wie bei der Sarasin Bank oder Julius Bär gezogen. Es stimmt mich positiv, dass sich die Schweiz in der Debatte über die Bekämpfung von Steuerhinterziehung dem internationalen System zum automatischen Informationsaustausch angeschlossen hat und die Banken erklärtermassen eine Weissgeldstrategie verfolgen wollen. Das war der Reputation des Schweizer Bankensektors dienlich. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Finanzbranche einer der bedeutendsten Sektoren für die wirtschaftliche Entwicklung der Schweiz ist.

Sie hatten der Schweiz damals indirekt damit gedroht, die Kavallerie loszuschicken, um den Druck auf das Bankgeheimnis auch zu erhöhen. Wie blicken Sie rückblickend auf die Wortwahl?

Angesichts positiver Wendungen bin ich heute versöhnlicher. Was ich damals gesagt habe, war seiner Zeit berechtigt und begründet. In manchen Etagen Schweizer Banken hat über Jahrzehnte die Meinung geherrscht, dass die Beihilfe zur Steuerhinterziehung eine Art Kavaliersdelikt ist. Mich hat seinerzeit eine Bemerkung eines sehr respektablen Schweizer Botschafters gewundert. Er sagte mir, dass ich mit meinen Ausführungen und Anliegen die Souveränität der Schweiz tangiere. Ich habe geantwortet: «Entschuldigen Sie bitte, aber Schweizer Banken berühren durch ihre aktive und vorsätzliche Beihilfe zur Steuerhinterziehung von deutschen Staatsbürgern die Souveränität der Bundesrepublik Deutschland. Sie entziehen uns zustehende Steuereinnahmen, die wir zur Finanzierung öffentlicher Güter von der Infrastruktur bis zur Bildung brauchen.»

Ich war mir damals darüber im Klaren, dass einige meiner Formulierungen das Nervenkostüm von vielen Schweizern belasteten, aber es war mir wichtig, die Beihilfe zur Steuerhinterziehung aus der Ecke des Kavaliersdeliktes zu holen und die Schädigung des deutschen Fiskus auf die politische Tagesordnung zu setzen. Manchmal ist ein lauter Weckruf notwendig, um Veränderungen zu erreichen.

Die Bankenerschütterungen haben auch gezeigt, dass die Finanzmärkte sehr sensibel aufsteigende Zinsen reagieren. Wie beurteilen Sie die Geld- und Zinspolitik der Notenbanken?

Die EZB und andere Zentralbanken haben die Inflationsgefahren lange unterschätzt. Ich kann mich an meine Beteiligung in einem Gremium unter der Leitung des früheren bayrischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber erinnern, dass sich sehr frühzeitig an die EZB mit Inflationswarnungen wandte, aber auf taube Ohren stiess. Als sie dann den Knall endlich hörten, haben sie richtig gehandelt und die Leitzinsen erhöht. Das Ergebnis spricht für sich. Die Inflationsrate ist im Euro-Raum nahe der Zielmarke von 2 Prozent gesunken – in einzelnen Mitgliedsaaten ist sie deutlich höher und Vorsicht ist zweifellos geboten. Aber die Märkte erwarten bereits wieder eine leichte Senkung der Leitzinsen. Im Übrigen habe ich mich über manche Dramatisierung der gestiegenen Zinsen etwas gewundert. Denn ein solches Zinsniveau hat es ja in den vergangenen Jahrzehnten mehrfach gegeben. Das war absolut nichts Neues.

Die Staatsverschuldung befindet sich weltweit auf einem Rekordniveau. Einige fordern mehr Investitionen, um das Wachstum anzukurbeln. Andere sagen, der Abbau der Staatsschulden habe Priorität. Wo positionieren Sie sich in dieser Debatte?

Ich sehe die internationale Staatsverschuldung ausgesprochen kritisch, gerade auch im Euroraum. Wir haben es mit mehreren Mitgliedsstaaten zu tun, einschliesslich Ländern wie Frankreich und Italien, deren Staatsverschuldung teilweise deutlich über 100 Prozent ihres Bruttoinlandprodukts liegt. Für die USA gilt dies auch. Wenn man noch die private Verschuldung bedenkt, dann kann einem dieses Thema nicht gleichgültig sein, weil darin durchaus ein gewisser Sprengstoff liegt. Ich kann mir gut vorstellen, dass wir die deutsche Schuldenregel zeitgemäss anpassen, um Spielräume für Investitionen zu gewinnen, zumal unsere Staatsverschuldung bei rund 65 Prozent liegt. Die Forderung nach ihrer Abschaffung war immer politisches Maulheldentum. Auch im Euroraum gibt es ein neues Regime, wie mit überschuldeten Ländern umgegangen werden soll. Es bleibt abzuwarten, ob das Erfolg hat oder ob es genauso versandet wie frühere Verfahren.

Wo sehen Sie einen Lösungsweg?

Wir müssen in der politischen Debatte klar unterscheiden zwischen Investitionen und staatlichen Konsumausgaben. So hat insbesondere Deutschland in den vergangenen Jahren viel zu wenig investiert, privat wie öffentlich. Der öffentliche Kapitalstock verfällt und private Investitionen wandern ins Ausland, weil die investiven und regulativen Rahmenbedingungen nicht attraktiv genug erscheinen. In meinen Augen liegt die Lösung nicht darin, leichtfüssig die Staatsausgaben zu steigern, sondern gezielt öffentliche Investitionen zu erhöhen und an anderer Stelle Staatsausgaben zu senken.

Unser Sozialstaat ist zweifellos ein Kulturgut und ein sozialer Integrationsfaktor erster Ordnung. Aber man darf angesichts einer Sozialstaatsquote von über 30 Prozent am Bruttoinlandsprodukt und einem 45%-Anteil von Sozialausgaben und Arbeitsmarktmassnahmen am Bundeshaushalt – bei einer öffentlichen Investitionsquote von knapp über 2 Prozent – ernsthaft über die Zielgenauigkeit staatlicher Sozialtransfers debattieren, ohne sich den Vorwurf einzuhandeln, man wolle die Abrissbirne durch den Sozialstaat rasen lassen. Die Frage ist berechtigt, ob die Sozialausgaben nicht sehr viel stärker auf die unzweifelhaft Bedürftigen konzentriert werden müssen.

Wie blicken Sie angesichts der vielfältigen Herausforderungen in die Zukunft?

Ich stelle kritisch fest, dass die Politik nicht der Dimension und den Konsequenzen einer Zeitenwende entspricht. Ich halte den Begriff der Zeitenwende für berechtigt. Es geht dabei um vielfältige Einflüsse und Umwälzungen wie den Kollaps der europäischen Sicherheitsarchitektur durch den russischen Angriff auf die Ukraine, den Aufstieg von rechtspopulistischen Kräften, das revolutionäre Potenzial von KI, die Auswirkungen des Klimawandels und nicht zuletzt die Verschiebung der globalen Machttektonik in den indopazifischen Raum mit einer Systemkonkurrenz zwischen dem globalen Westen und autoritären Staaten. Das hat für Europa und unsere Handelsbeziehungen enorme Auswirkungen.

Ich habe den Eindruck, dass die nationale und europäische Politik diese Zeitenwende noch nicht richtig erfasst hat und weite Teile unserer Zivilgesellschaften glauben, im Status quo verharren zu können. Ich halte das für einen Irrtum.

Was raten Sie der nachfolgenden Generation?

Wir müssen uns in Resilienz üben. Die Welt bleibt unübersichtlich. Wir werden es weiterhin mit Umbrüchen und Krisen zu tun haben. Wir müssen methodisch ein gutes Krisenmanagement entwickeln und damit rechnen, dass die weitere Entwicklung auch unseres Wohlstandes nicht linear immer weiter nach oben verläuft. Wir werden unser Modell der demokratischen Machtkontrolle, des Rechtsstaates und einer liberalen Gesellschaft gegenüber Anfeindungen und Relativierungen aktiv verteidigen müssen.

Zur Person

Peer Steinbrück ist einer der bekanntesten ehemaligen Spitzenpolitiker Deutschlands. Steinbrück war Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen und Finanzminister in der Regierung von Bundeskanzlerin Angela Merkel. In seiner Amtszeit von 2005 bis 2009 bewährte er sich als Krisenmanager. Im Zuge der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 setzte er sich dafür ein, dass der Staat für private Einlagen garantiert und stellte Länder wie die Schweiz wegen des Bankgeheimnisses öffentlich an den Pranger. Anschliessend war er bis 2016 Mitglied des deutschen Bundestages und kandidierte 2013 als Kanzlerkandidat der SPD.

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