07.11.2024, 09:46 Uhr
Nach den Abflüssen im Vorjahr hat die Bank Vontobel in den ersten neun Monaten 2,6 Milliarden Franken Neugeld bekommen. Das Plus resultiert dabei aus dem Geschäft mit Privaten.
Russland hat schon immer die Phantasie des Westens angeregt. Anleger träumen von sagenhaften Reichtümern, und Kinobesucher fiebern der Niederlage eines russischen Bösewichts gegen James Bond entgegen. Was sich derzeit im Kreml abspielt, scheint ironischerweise direkt einem Buch von Ian Fleming entnommen: Ein früherer Geheimdienstagent zieht die Fäden und stellt eine Bedrohung für den Westen dar. Doch die Märkte sind objektiv und stets auf der Suche nach Anlagechancen auch in Moskau. Allerdings dürfte das dortige Umfeld für die Anleger sehr schwierig bleiben, sieht man von gelegentlichen Schnäppchenkäufen ab, sagt Christophe Bernard, Chefstratege von Vontobel.
Für den Westen im Allgemeinen und die Anleger im Besonderen ist Russland faszinierend und geheimnisvoll zugleich. Einerseits gilt es als Land, das über enorme Ressourcen und ein schier unerschöpfliches Potenzial verfügt. Andererseits ist es eine Quelle stetiger Enttäuschung und politischer Risiken. Winston Churchill hat dies 1948 so formuliert: "Russland ist ein Rätsel, umgeben von einem Mysterium, verborgen in einem Geheimnis. Aber es gibt einen Schlüssel dazu. Und dieser Schlüssel ist das nationale Interesse Russlands." Dies dürfte zutreffen. Vor zehn Jahren bezeichnete der russische Präsident Wladimir Putin an der Sicherheitskonferenz in München die Weltordnung nach dem Kalten Krieg als einen Schwindel. Er beschuldigte die USA, internationales Recht zu missachten und den Einfluss der Nordatlantikpakt-Organisation nach Osten auszudehnen. Und er meinte das ernst. Inzwischen ist Russland in Georgien einmarschiert, hat die Krim annektiert, die Ukraine destabilisiert und spielt eine entscheidende Rolle im Syrien-Konflikt. Das Land ist von einer Macht mittlerer Grösse wieder zu einem ernstzunehmenden geopolitischen Akteur aufgestiegen.
"Sanfte Macht" auf russische Art
Russland entwickelt zudem eine Alternative zur liberalen Weltordnung, für die die USA seit dem 2. Weltkrieg geradestehen. Dies in einer Zeit, in der die westlichen Demokratien unter Druck stehen. Populistische Führer, welche die Europäische Union oder die Eurozone als Wurzel allen Übels betrachten, werfen sich nur zu gerne in die Arme Moskaus. Ihnen ist zudem gemeinsam, dass sie ihre Länder und "das Volk" vor den Gefahren des Welthandels beschützen wollen. Kommt hinzu, dass sich viele Stimmbürger mittlerweile von ihren politischen Eliten abwenden. Kombiniert man diese beiden Faktoren, sind der "Brexit", die Wahl Donald Trumps zum 45. US-Präsidenten, der sprunghafte Anstieg der Beliebtheit des Front National in Frankreich oder der Alternative für Deutschland in den Umfragen die logische Folge. Zum Instrumentarium der sanften russischen Macht gehören das Hacken von sensiblen Computersystemen und die Verbreitung von "alternativen Fakten" über westliche Medien. Der Kreml hat sich offenbar in die US-Präsidentschaftskampagne eingemischt und könnte auch versuchen, die bevorstehenden Wahlen in Frankreich und Deutschland zu beeinflussen. Der Sieg Donald Trumps schien Russland in die Hände zu spielen und den Weg freizumachen für einen grossen Deal zwischen zwei starken Männern. Ein solcher Pakt könnte unter Umständen die Anerkennung der Einflusssphäre Russlands, eine Kooperation bei der Bekämpfung des islamistischen Terrors oder die Aufhebung der westlichen Wirtschaftssanktionen gegen Moskau beinhalten. Angesichts der Unberechenbarkeit der neuen US-Regierung könnten sich die Dinge jedoch auch ganz anders entwickeln. Donald Trump ist in einen ersten Skandal verwickelt, in dem es um Russland geht und der zur Entlassung seines nationalen Sicherheitsberaters Michael Flynn führte. Eine schnelle Verständigung mit Wladimir Putin ist somit möglicherweise vom Tisch.
Russland expandiert flächenmässig, nicht wirtschaftlich
Das grösste Land der Welt ist mit der Annexion der Krim noch grösser geworden, der Wirtschaftsmotor stottert jedoch nach wie vor. Russland befindet sich seit zwei Jahren in einer Rezession. Dafür sind zum einen der Ölpreisverfall, zum anderen die westlichen Wirtschaftssanktionen infolge der Landnahme verantwortlich. Allerdings war der makroökonomische Schock weniger schwer als in den früheren Krisenjahren 1998 oder 2009. Dies war hauptsächlich der unabhängigen Notenbankchefin Elwira Nabiullina zu verdanken, die eine nach westlichem Vorbild ausgerichtete Notenbankpolitik betreibt. Sie liess den Rubel im Zuge des Ölpreisrückgangs abwerten und erhöhte die Zinsen, um die Inflation zu kontrollieren. Die Finanzreserven, die Russland seinen Öleinnahmen verdankt, erwiesen sich als nützliche Geldquelle im Staatshaushalt zur Abfederung des Abschwungs. Das Bankensystem bewältigte die Rezession ziemlich gut und in der Leistungsbilanz resultierte weiterhin ein Überschuss. Insgesamt hat sich die Wirtschaft stabilisiert, doch die Erholung dürfte nur schleppend verlaufen. Russland ist zu stark von fossiler Energie abhängig (70 Prozent der Exporte, 50 Prozent der Staatseinnahmen). Ohne eine Stärkung der Rechtsstaatlichkeit und der Eigentumsrechte sowie unter der Annahme, dass die Sanktionen des Westens bestehen bleiben, ist ein zukünftiges Wirtschaftswachstum von über 1 Prozent bis 1.5 Prozent kaum vorstellbar.
Wo steht Russland politisch? Obwohl die russische Bevölkerung der Wirtschaftspolitik des Landes eher schlechte Noten ausstellt, geniesst Wladimir Putin für seine forsche Aussenpolitik breite Unterstützung. Der Herr über den Kreml, der seit 1999 ununterbrochen an der Macht ist, dürfte nach den Wahlen im März 2018 weiter im Amt bleiben. Dies würde Putin ein Jahrhundert nach der Abdankung von Nikolaus II. geradezu die Statur eines Zaren verleihen. Das Verlangen nach starken Herrschern in Russland scheint die einzige historische Konstante, alles Übrige ist ungewiss.
Russische Aktien für Engagement im Ölbereich unnötig
Zu den Finanzmärkten: Die globalen Aktienbörsen sind vor Kurzem auf Rekordstände geklettert. Allerdings sollten sich die Anleger keine falschen Vorstellungen machen. Die populistischen Programme, sofern sie Erfolg haben, dürften mit der Zeit das Weltwirtschaftswachstum bremsen und eine Gefahr für die Margen der globalen Konzerne darstellen.
Angesichts der politischen Aussichten für Russland scheint momentan jede Hoffnung auf eine nachhaltige Verbesserung in den Bereichen Corporate Governance oder Aktionärsrechte fehl am Platz. Der lokale Markt bleibt eine Wette auf die Ölpreisentwicklung und die Bewertungen sind optisch günstig. Dennoch finden Anleger, die mittelfristig einen Anstieg des Ölpreises erwarten, nach der Meinung von Vontobel ausserhalb des Moskauer Aktienmarktes bessere Anlagechancen.