07.11.2024, 09:46 Uhr
Nach den Abflüssen im Vorjahr hat die Bank Vontobel in den ersten neun Monaten 2,6 Milliarden Franken Neugeld bekommen. Das Plus resultiert dabei aus dem Geschäft mit Privaten.
Der Ausgang der zweiten Runde der brasilianischen Präsidentschaftswahlen am Sonntag ist unsicher. Ob Jair Bolsonaro oder Luiz Inácio Lula da Silva gewinnt: Der zukünftige Präsident sieht sich mit trüben wirtschaftlichen Aussichten konfrontiert. Gemäss Thierry Larose, Portfolio Manager von Vontobel, ist in letzter Zeit vorherrschende Optimismus für Brasiliens Wirtschaft unangebracht.
Einheimische und ausländische Anlegerinnen und Anlager haben Aufholjagd von Jair Bolsonaro begrüsst, da die Märkte in der Regel davon ausgehen, dass rechtsgerichtete Regierungen besser in der Lage sind, das Wirtschaftswachstum zu fördern und gleichzeitig die öffentlichen Finanzen verantwortungsvoll zu verwalten. "Wir gehen jedoch nach wie vor davon aus, dass Lula da Silva mit knappem Vorsprung gewinnen wird", sagt Vontobel-Portfolio-Manager Thierry Larose.
Bolsonaros negativer Abstand von 6,5 Mio. Stimmen im ersten Wahlgang müssten durch einen massiven Transfer von Stimmen von den Wählern von Simone Tebet und Ciro Gomes, die im ersten Wahlgang kandidierten, oder durch einen signifikanten Wechel von Stimmen aus ungültigen und leeren Stimmzetteln zugunsten des derzeitigen Präsidenten geschlossen werden. "Die in Brasilien illegale Stimmenthaltung und die ungültige Stimmabgabe sind jedoch seit jeher stabil, so dass dies kaum zu einer Änderung des Wahlergebnisses führen dürfte", meint Larose.
Die Wirtschaftsreformen würden wahrscheinlich unter beiden Regierungen voranschreiten, da es keine andere Möglichkeit gebe, die durch die verfassungsmässige Ausgabenbegrenzung auferlegten Grenzen einzuhalten. Lula da Silva würde sich aktiv um die Aufhebung dieser Obergrenze bemühen, aber die Hürde scheint zu hoch zu sein, als dass seine Koalition zu diesem Zweck eine qualifizierte Mehrheit erreichen könnte. Dies gilt insbesondere für den Senat, in dem die rechten Parteien dominieren.
Bolsonaro würde diese Beschränkung ebenfalls gerne ändern, aber der politische Spielraum seines Wirtschaftsministers Paulo Guedes ist nicht unbegrenzt, und er wird einige Kompromisse bei seinen Hauptzielen eingehen müssen, so der Vontobel-Experte.
Die dringlichste Herausforderung für einen der beiden Gewinner dürfte die Verwaltungs- und Steuerreform sein. Eine Lula-Präsidentschaft würde wahrscheinlich auch versuchen, die Ungleichheiten zu verringern, die Investitionen in Bildung und Infrastruktur zu erhöhen, die Umwelt wieder auf die Tagesordnung zu setzen und die Rolle des Landes in der internationalen Gemeinschaft wiederherzustellen. Stattdessen würde eine Präsidentschaft Bolsonaro weiter daran arbeiten, die Rolle des Staates in der Wirtschaft zu verringern und die Geschäftstätigkeit zu erleichtern, während er gleichzeitig versuchen würde, die durch den Wahlkampf unterminierte Steuerdisziplin wiederherzustellen.
Die Privatisierung staatlicher Unternehmen sowie die Versteigerung von Lizenzen für den Betrieb öffentlicher Infrastrukturen sind ein Kernziel von Bolsonaros Wirtschaftsminister Paulo Guedes und werden es auch bleiben, wenn Bolsonaro ein zweites Mandat gewinnt. Tatsächlich sei dies die einzige Karte, die er ausspielen könne, um die öffentliche Schuldenlast zu verringern, wenn die realen Zinssätze viel höher sind als das reale BIP-Wachstum und angesichts der grossen Herausforderung, im nächsten Jahr einen Primärüberschuss im Haushalt zu erzielen, meint Larose.
Andererseits sind Privatisierungen im grossen Stil mit vielen juristischen und politischen Hürden verbunden und brauchen viel Zeit, um realisiert zu werden. Besonders die Privatisierung von Petrobras würde nicht nur länger als eine Amtszeit des Präsidenten dauern, sondern auch auf den Widerstand, "um nicht zu sagen die Opposition von Bolsonaro selbst stossen, dessen populistisches Programm einen ständigen und aktiven Interventionismus in die Preispolitik des Unternehmens erfordert."
Im Gegensatz dazu würde eine Präsidentschaft Lula ein Ende der Privatisierungen von Staatsbetrieben bedeuten, "aber wir glauben nicht, dass Wiederverstaatlichungen auf seiner Agenda stehen", ergänzt Larose.
Vontobel zeichnet kein so rosiges Bild von der brasilianischen Wirtschaft. Das Wachstum ist zwar vorhanden, aber es ist vor allem das Ergebnis der ökonomischen Wiederbelebung nach Corona, mehrerer Runden fiskalischer Anreize und hoher Rohstoffpreise. Alle diese Faktoren würden entweder auslaufen oder sich abchwächen. "Die Erwartungen für das nächste Jahr sind deutlich niedriger und liegen kaum noch im positiven Bereich", sagt der Spezialist.
Die Gesamtinflation ist derzeit relativ niedrig, was jedoch in erster Linie auf die im letzten Sommer eingeführten Steuersenkungen für Energieprodukte zurückzuführen ist. Auch die nicht administrierten Preise haben sich dank der restriktiven Geldpolitik verlangsamt. Aber die Kerninflation, so Larose, liegt immer noch auf einem hohen Niveau, "was in Anbetracht der Tatsache, dass der Straffungszyklus nun zu Ende ist, Anlass zur Sorge gibt."
Besorgniserregend ist auch die nach wie vor zweistellige Inflation bei Nahrungsmitteln und Getränken, da diese Warengruppe für einen grossen Teil der Bevölkerung wichtig ist.
Ein weiterer Grund zur Sorge sind die rund 1 Billion Reais an notleidenden Verbraucherschulden, die auf den Familienfinanzen lasten. Fast 80% der brasilianischen Familien sind verschuldet, und 30% von ihnen haben aufgrund der extrem hohen Zinssätze für Privatkredite Schwierigkeiten, ihre Schulden zu bedienen. So kostet beispielsweise ein Autokredit rund 2% pro Monat (ca. 27% p.a.) und ein Überziehungskredit für eine Kreditkarte rund 14% pro Monat (ca. 380% p.a.), rechnet Larose vor.
Die guten Ergebnisse bei den Steuereinnahmen wurden in diesem Jahr bisher vor allem für Steuersenkungen und Subventionen verwendet und nicht für den Schuldenabbau oder die Nettokapitalbildung.
Was die Schuldentragfähigkeit anbelangt, wird die Bruttoverschuldung im Verhältnis zum BIP, nachdem sie im letzten Jahr dank des hohen nominalen BIP-Wachstums deutlich zurückgegangen ist, im Jahr 2023 wieder steigen. Die Nettoverschuldung wird durch den negativen Mark-to-Market-Effekt der höheren Dollarkurse auf die Währungsreserven beeinträchtigt.
Darüber hinaus sind die Kosten für den Schuldendienst immer noch hoch, nämlich fast 25% der Staatseinnahmen, weil mehr als 70% der Schulden entweder an den geldpolitischen Zinssatz (über die Letras Financeiras do Tesouro) oder an die Inflation (über die Notas do Tesouro Nacional - Série B/C) gebunden sind. Thierry Larose: "Für Euphorie ist also auch auf dieser Seite wenig Platz."
"Alles in allem sind wir nicht übermässig beunruhigt, aber wir halten den brasilianischen Real nicht für besonders billig und sind skeptisch gegenüber der optimistischen Sichtweise, die in letzter Zeit vorherrscht", fährt der Vontobel-Mann fort. Konstruktiver sei man bei der Duration, wo man im Vorfeld des Beginns des geldpolitischen Lockerungszyklus Spielraum für eine Senkung der Zinsen sehe. "Die realen Zinssätze sind unhaltbar hoch, und hier sehen wir derzeit das überzeugendste Risiko-Rendite-Verhältnis", folgert Larose.