Der chinesische Riese kommt nur langsam voran

Christophe Bernard, Chefstratege bei Vontobel
Christophe Bernard, Chefstratege bei Vontobel

Erst kürzlich schraubte Chinas Ministerpräsident Li Keqiang seine Wachstumsprognosen auf 7 Prozent runter und bereitete die Bürger auf Reformen vor. Anbei erklärt Christophe Benard, Chefstratege bei Vontobel, welche Herausforderungen China aktuell zu meistern hat und in welchen Bereichen sich Anlagechancen auftun.

01.04.2015, 16:45 Uhr

Redaktion: jod

"Chinas Aufstieg zu einem globalen Schwergewicht stellt eine der prägenden Entwicklungen der Weltwirtschaft dar. Atemberaubende Wachstumsraten beim chinesischen Bruttoinlandprodukt, die dem Gesetz der Schwerkraft zu trotzen schienen, waren bis vor Kurzem die Regel. Wir glauben, dass der chinesische Aktienmarkt noch Potenzial hat, sehen aber auch die grossen Herausforderungen, die die zweitgrösste Volkswirtschaft der Welt zu meistern hat.

Zum ersten Mal seit der Einführung von marktwirtschaftlichen Reformen durch den früheren Ministerpräsidenten Deng Xiaoping Ende der 1970er-Jahre schwächt sich das chinesische Wirtschaftswachstum deutlich ab. Nach Werten von 10 Prozent oder mehr sind nunmehr jährliche Wachstumsraten von rund 7 Prozent zu verzeichnen. In einer entscheidenden Sitzung im November 2013 befasste sich die dritte Plenarsitzung des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei mit dem Ausmass der Ungleichgewichte in der chinesischen Wirtschaft sowie der mangelnden Nachhaltigkeit des von Exporten und hohen Investitionen getragenen Wirtschaftsmodells. Diese wirtschaftlichen Ungleichgewichte gehen auf die massive kreditgestützte Expansion zurück, die von 2009 bis 2011 als Antwort auf die «grosse Finanzkrise» stattfand und eine ausgeprägte Immobilienblase sowie Überkapazitäten in zahlreichen Branchen zur Folge hatte. Die neue Führung, die 2013 das Ruder übernahm, legte einen langfristigen Reformplan vor, der eine stärker am Markt orientierte Preisbildung, eine Verlagerung auf konsumbasiertes Wachstum und eine allmähliche Liberalisierung des Finanzsektors beinhaltet. Bestes Beispiel für diesen Übergang zu einer Stärkung des Dienstleistungssektors und des Binnenkonsums ist der Börsengang des chinesischen E-Commerce-Giganten Alibaba Group an der New Yorker Börse im September 2014.


Grafik 1: Breiter Aufwärtstrend für den chinesischen Yuan seit Mitte 2005


Quelle: Thomson Reuters Datastream, Vontobel Asset Management


Im März 2015 bekräftigten die führenden Mitglieder der Kommunistischen Partei das Ziel, die chinesische Wirtschaft zu reformieren. Sie räumten dabei ein, dass es eine Herausforderung sein werde, den Sollwert von 7 Prozent beim Wachstum des Bruttoinlandprodukts (BIP) im Jahr 2015 zu erreichen. Dieses Ziel ist in der Tat hoch gesteckt, denn ein Abbau solcher wirtschaftlicher Ungleichgewichte führt in der Regel zum Platzen von Immobilienblasen, zu Rezession, einem massiven Anstieg der Kreditrisiken bei den Banken und einem drastischen Gewinnrückgang im Industriesektor. In einer offenen Volkswirtschaft – die China nicht ist – wäre dies üblicherweise mit einer erheblichen Abwertung der Währung verbunden.


Lokale Aktien profitieren von Liquiditätszuflüssen
All diese Entwicklungen sind für die politische Elite Chinas inakzeptabel, da sie einen Bruch mit dem Sozialpakt bedeuten und die Herrschaft der Partei untergraben könnten. Dank der riesigen Währungsreserven Chinas und einer relativ schuldenfreien Zentralregierung kann die Führung Infrastrukturinvestitionen nach ihrem Gutdünken beeinflussen, ohne den Staatshaushalt zu gefährden. Von wesentlicher Bedeutung ist dabei, dass die Stärke des chinesischen Yuan oder Renminbi (siehe Grafik 1) und der Verfall der Rohstoffpreise derzeit die Inflation dämpfen. Dies kann die Tür zu einer weiteren Lockerung der ohnehin schon expansiven Geldpolitik öffnen. In Zeiten, in denen die Privathaushalte von Bar- und Immobilienanlagen in Aktien umschichten, hilft dies dem Aktienmarkt. Entsprechend haben lokale Aktien, die sogenannten A-Aktien, die in Schanghai notiert sind, seit vergangenem Sommer enorme Kursgewinne verzeichnet. Demgegenüber werden H-Aktien (in Hongkong notierte chinesische Aktien, die im MSCI China abgebildet werden) mittlerweile mit einem erheblichen Abschlag gehandelt (siehe Grafik 2). Wir halten angesichts der attraktiven Bewertungen und der anhaltenden Unterstützung durch die hohe Liquidität an unserer «Übergewichtung» chinesischer Aktien fest.


Grafik 2: Börse von Schanghai übertrumpft den offeneren Hongkonger Markt


Quelle: Thomson Reuters Datastream, Vontobel Asset Management

Alternde Bevölkerung als wachsendes Problem
Gleichzeitig sind wir uns bewusst, dass der Übergang zu einer marktorientierten Volkswirtschaft enorme Risiken birgt. Ein Faktor, der Kopfzerbrechen bereitet, ist die demografische Entwicklung: Der sogenannte Altersabhängigkeitsquotient – ein Massstab für den nicht erwerbstätigen Bevölkerungsanteil im Verhältnis zum erwerbstätigen Teil – ist im Steigen begriffen. Das heisst, die mit einer alternden Gesellschaft verbundenen Probleme beginnen sich zu manifestieren. Gleichzeitig verringert sich der wirtschaftliche Nutzen der schnellen Verstädterung. Alles in allem erscheinen uns die offiziellen mittelfristigen Wachstumsziele daher unrealistisch.

Alle Augen ruhen auf der US-Notenbank
Anders als in China gelten die Gesetze der Physik an den globalen Finanzmärkten uneingeschränkt. Ein Beispiel hierfür ist das Kaufprogramm der Europäischen Zentralbank (EZB) für Staatspapiere der Eurozone, das mit einem Volumen von monatlich 60 Milliarden Euro wahrlich gigantisch ist. Als Folge davon verschwinden Staatsanleihen von hoher Kreditqualität aus dem Markt, was wiederum dazu führt, dass in vielen Ländern, allen voran in Deutschland, die Renditen von Staatsanleihen in negatives Terrain absinken. Dadurch kann sich trotz besserer Fundamentaldaten in den USA die US-Renditekurve nicht von der Bund-Kurve abkoppeln, denn den Renditeunterschieden zwischen zehnjährigen US-Staatsanleihen und deutschen Bundesanleihen sind physische Grenzen gesetzt. Die notwendige Anpassung muss daher voll und ganz über den US-Dollar erfolgen, der langfristig unter Aufwärtsdruck steht. Dadurch schwächen sich die US-Exporte und entsprechend das Wirtschaftswachstum der USA ab, und die Inflation bleibt gedämpft. Inzwischen hat die US-Zentralbank Fed das Damoklesschwert über den Finanzmärkten praktisch entfernt, indem sie die Erwartungen einer unmittelbar bevorstehenden Straffung ihrer Geldpolitik gedämpft hat. Zwar haben die Währungshüter das Wort «Geduld» aus ihrer jüngsten Stellungnahme zu möglichen Zinserhöhungen gestrichen. Doch die Fed-Vorsitzende Janet Yellen stellte sofort klar, dies heisse nicht, dass sie im Hinblick auf künftige Zinserhöhungen nun «ungeduldig» sei. Zudem setzte die US-Notenbank ihre kurzfristigen Wachstums- und Inflationsprognosen deutlich herab. Ausserdem lassen die neuen Zinsprognosen der Fed-Mitglieder – sie werden in einer Punktgrafik (Spitzname «dot plot») dargestellt – auf ein moderates Tempo bei einer künftigen Straffung der Geldpolitik schliessen.

Insgesamt bleiben wir bei unserer weitgehend positiven Einschätzung von Risikoanlagen, da die Geldpolitik locker bleibt. Zudem stabilisiert sich das globale Wachstum dank eines verbesserten Ausblicks für die Eurozone. Wir haben unser Engagement im US-Dollar nach kräftigen Gewinnen im Zusammenhang mit diesem Investment reduziert weil uns das Risiko-Rendite-Profil nun weniger attraktiv erscheint. Allerdings behalten wir die «Übergewichtung» des US-Dollar bei. Gleichzeitig sind wir sind uns darüber im Klaren, dass die Liquiditätsspritzen der Zentralbanken bei allen Anlageklassen zu überhöhten Bewertungen führen. Das bedeutet, dass wir Märkte und Wertpapiere, in die wir investieren, sorgfältig auswählen und hinsichtlich möglicher Wendepunkte wachsam bleiben müssen."

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