«TINA hat uns inzwischen verlassen»

Zu der Zeit, als die Fed die Zinssätze nahe bei Null hielt, lautete ein beliebtes Wall-Street-Akronym TINA – There Is No Alternative. TINA hat uns aber inzwischen verlassen, glaubt Paolo Corredig, Länderchef von T. Rowe Price in der Schweiz.
Zu der Zeit, als die Fed die Zinssätze nahe bei Null hielt, lautete ein beliebtes Wall-Street-Akronym TINA – There Is No Alternative. TINA hat uns aber inzwischen verlassen, glaubt Paolo Corredig, Länderchef von T. Rowe Price in der Schweiz.

Angesichts der steigenden Zinsen und der instabilen Konjunktur fällt es derzeit schwer, die mittelfristigen Marktaussichten mit Zuversicht zu betrachten. Paolo Corredig, Länderchef von T. Rowe Price in der Schweiz, sieht im Interview dennoch überzeugende Chancen bei aktiv gemanagten Aktien- und Anleihenstrategien und erklärt wieso uns «TINA verlassen hat».

26.07.2023, 11:37 Uhr
Anlagestrategie | Interviews

Redaktion: sw

Viele Markteilnehmer hoffen angesichts des unsicheren Wirtschaftswachstums auf ein absehbares Ende des Zinserhöhungszyklus. Teilen Sie diese Zuversicht?

Paolo Corredig: Gemäss meinem Kollegen Arif Husain, Leiter International Fixed Income, versucht der Markt, zwei sehr unterschiedliche Szenarien unter einen Hut zu bringen – eines, bei dem die US-Wirtschaft ziemlich stark bleibt und die US-Notenbank Fed die Zinsen nicht senkt, und eines, in der die Dinge schrecklich schieflaufen und die Fed die Zinsen um mehrere hundert Basispunkte senken muss. Dies preist der Markt im Durchschnitt ein.

Mit Blick auf Europa gehen wir davon aus, dass die Europäische Zentralbank und die Bank of England die Zinsen trotz der wirtschaftlichen Risiken noch mehrmals anheben werden. Die Zinsen werden somit noch länger hoch bleiben, wobei der anhaltende Inflationsdruck das Haupthindernis für eine geldpolitische Lockerung bleibt. In der zweiten Jahreshälfte könnte jedoch das Zusammenwirken mehrerer Faktoren die Finanzliquidität in den USA abwürgen, was vielleicht zu einer Änderung des geldpolitischen Kurses der Fed führen könnte.

Der starke US-Dollar wirkte sich in den vergangenen Jahren hemmend auf US-Anleger auf den globalen Märkten ausserhalb der USA aus. Wie sehen Sie die weitere Entwicklung des Greenback?

Laut unserem Head of International Equity, Justin Thomson, dürften sowohl strukturelle als auch zyklische Faktoren die Stärke des US-Dollars mittelfristig bremsen. Konjunkturell bedingt dürften geringere Zinsdifferenzen und ein mässiges globales Wirtschaftswachstum andere Währungen stützen – insbesondere die Währungen der Schwellenländer. In der Vergangenheit war der Dollar in der Regel am stärksten, wenn das Risiko gering war und die US-Wirtschaft sehr stark wuchs. In einem eher gemischten Szenario ist hingegen zu erwarten, dass der Dollar schwächer wird. Strukturell begünstigen nach Ansicht meines Kollegen auch die relativen Bewertungen andere Währungen. Ende Mai etwa lag der US-Dollar beim 96. Perzentil seiner 15-jährigen Bewertungsspanne gegenüber den wichtigsten Industrieländerwährungen.

Der starke Anstieg der Anleiherenditen seit Anfang vergangenen Jahres hat das Renditepotenzial in vielen Anleihesektoren verbessert. Lohnt vor diesem Hintergrund eine aggressive Umschichtung des Portfolios in längerfristige Anleihen?

Wer pauschal von einem ‚Comeback der Anleihen’ spricht, ist ein wenig zu optimistisch. Einige Anleihenmärkte konnten bereits ein Comeback machen. Bei anderen könnte das in naher Zukunft der Fall sein. Aber einfach zu sagen: ‚Kaufen Sie jetzt Anleihen' ist zu generalisierend. Die Renditen der meisten Staatsanleihen und Investment-Grade-Unternehmensanleihen sind real, also nach Abzug der Inflation, immer noch nicht positiv. Und da die Renditekurve der US-Staatsanleihen Ende Mai kurz vor einer Rekord-Inversion stand, könnten Anleger, die Geldmarktbestände gegen längerfristige Anleihen eintauschen, einen hohen Renditeabschlag zahlen.

Negative Renditekurven machen die Duration zu verlängern teuer – insbesondere für Anleger, die kurzfristiges Geld aufnehmen, um ihre Long-Positionen in Anleihen zu finanzieren. Am Ende opfert man täglich Ertrag. Unter diesen Bedingungen kommt eine aggressive Verlängerung der Laufzeiten am Obligationenmarkt der Vereinigten Staaten einer Wette auf eine bevorstehende Rezession gleich.

Welche Anleihesegmente bieten vor diesem Hintergrund Opportunitäten?

Der Anstieg der Renditen hat möglicherweise zu interessanten Gelegenheiten bei Unternehmensanleihen geführt. Renditen im Bereich von 8 bis 10 Prozent und Credit Spreads nahe ihrem 10-Jahres-Durchschnitt machen für Arif Husain den globalen High Yield Markt in jedem Szenario attraktiv, das nicht auf eine tiefe, globale Rezession hinausläuft. Zwar dürften ein langsameres Wirtschaftswachstum und höhere Zinssätze die Ausfallraten während des restlichen Jahres 2023 und im kommenden Jahr schrittweise ansteigen lassen. Da die Bilanzen der Unternehmen im Durchschnitt aber immer noch einen geringen Verschuldungsgrad und eine ausreichende Schuldendienstdeckung aufweisen, sind die Ausfallrisiken laut meinem Kollegen moderat. Er geht nicht davon aus, dass die Ausfallraten auch nur annähernd den zusätzlichen Renditeaufschlag zunichte machen werden, der sich bei Hochzinsanleihen im Vergleich zu Investment-Grade-Anleihen erzielen lässt. Für Anleger in Märkten mit invertierten Renditekurven wie in den USA können andere globale Anleihenmärkte eine interessante Diversifizierung sowie potenzielle Renditechancen bieten.

Und wo lauern Gefahren?

Globale Investoren müssen allerdings einige «schwarze Schwäne» im Auge behalten. Eine Schlüsselrolle spielt hier die Möglichkeit einer Änderung der Geldpolitik durch die japanische Zentralbank. Sie könnte nach Ansicht von Arif Husain zu schweren Erschütterungen des weltweiten Finanzsystems führen. Als weiteres potenziell dramatisches, aber schwer zu bezifferndes Risiko sieht er die Bedrohung durch ein breiteres systemisches Marktereignis – möglicherweise ausgelöst durch eine Liquiditätsverknappung in den USA.

Ein wahrscheinlicherer Schauplatz ist das so genannte Schattenbanksystem. Viele dieser weniger regulierten und weniger liquiden Kreditgeber und die komplexen Finanzinstrumente, die sie geschaffen haben, haben noch keinen vollständigen Konjunkturzyklus überstanden. Hier sehen wir potenzielle Krisenherde.

Die Aktienrenditen waren in den ersten fünf Monaten dieses Jahres weitgehend positiv. Müssen die Gewinnprognosen, die sich in der ersten Jahreshälfte stabilisiert haben, nun wieder nach unten korrigiert werden?

Wir vermuten, dass dies der Fall sein wird. Analysten an der Wall Street neigen dazu, die Situation durch die rosarote Brille zu betrachten. Diese Erwartungen müssen wohl zurückgehen. Selbst ein bescheidener Gewinnrückgang würde die überzogenen Bewertungen der US-Large Caps nach weiter unter Druck setzen. Zu der Zeit, als die Fed die Zinssätze nahe bei Null hielt, lautete ein beliebtes Wall-Street-Akronym TINA – There Is No Alternative. TINA hat uns aber inzwischen verlassen. Jetzt gibt es Alternativen. Laut Analysen erscheinen US-Large-Cap-Aktien sogar teurer als vor der letztjährigen Baisse, obwohl das Kurs-Gewinn-Verhältnis des S&P 500 Index gesunken ist.

Das Bewertungsmodell, das zur Berechnung der Risikoprämie für Aktien verwendet wird, vergleicht die Gewinnrendite des S&P 500 mit der Rendite der zehnjährigen Staatsanleihen. Zu Beginn des Jahres 2022 lag die Risikoprämie für Aktien bei 2,8 Prozentpunkten. Ende Mai dieses Jahres war das Kurs-Gewinn-Verhältnis des S&P 500 auf 18,4 gesunken und die Gewinnrendite auf 5,4 Prozent gestiegen. Die Rendite 10-jähriger Staatsanleihen war jedoch noch stärker gestiegen, nämlich auf 3,7 Prozent. Nettoergebnis: eine Aktienrisikoprämie von 1,7 Prozentpunkten – niedriger als vor dem Aktienausverkauf von 2022. Nach diesem Massstab liegen die Bewertungen von US-Aktien derzeit im unattraktivsten fünften Perzentil ihrer zehnjährigen historischen Spanne.

Unter der Annahme, dass die Weltwirtschaft in eine leichte Rezession eintritt, könnten nach Einschätzung unseres Aktienspezialisten Justin Thomson auch die weltweiten Gewinne im nächsten Jahr stagnieren oder um bis zu 5 Prozent sinken. Verglichen mit vergangenen Gewinnzyklen könnte dies als positives Ergebnis gewertet werden.

Wo werden Anleger in diesem Umfeld fündig?

Wir finden auch im US-Markt Schnäppchen. Viele hochwertige Small- und Mid Caps werden mit erheblichen Abschlägen zu ihren historischen Durchschnittswerten gehandelt. Während das Kurs-Gewinn-Verhältnis des S&P 500 näher am oberen Ende seiner 10-Jahres-Spanne als am unteren Ende liegt, trifft für den S&P 600 Index das Gegenteil zu. US-Small Caps sind demnach so bewertet wie im Jahr 2008.

Auch am anderen Ende des Kapitalisierungsspektrums könnten sich potenzielle Chancen ergeben: bei den Mega-Cap-Technologieunternehmen, die beim Ausverkauf im Jahr 2022 stark betroffen waren – zum Teil aufgrund ihrer teuren Bewertungen. Big Tech hat sich in der ersten Hälfte des Jahres 2023 stark erholt, was zum Teil auf die wachsende Begeisterung der Anleger für Anwendungen der künstlichen Intelligenz zurückzuführen ist. Hier ist ein Wettrüsten im Gange und es würde uns nicht wundern, wenn die Starken noch stärker werden.

Ausserhalb der USA erscheint Japan attraktiv. Für das jüngste Geschäftsjahr, das im März endete, führte ein 5 prozentiges Wachstum der japanischen Unternehmensgewinne dank umfangreicher Aktienrückkäufe zu einem kräftigen Anstieg des Gewinns je Aktie um 12 Prozent.

Trotz der strukturellen wirtschaftlichen Probleme des Landes übersteigt das Geldmengenwachstum in China derzeit das reale Wirtschaftswachstum. Unter normalen Umständen sind dies positive Rahmenbedingungen für die Preise von Finanzanlagen. Anleger müssen jedoch die geopolitischen Risiken im Auge behalten, vor allem das Konfliktpotenzial im Zusammenhang mit Taiwan.

Auf was sollten Investoren angesichts dieser Gemengelage im zweiten Halbjahr besonders achten?

Als grösstes Risiko betrachten manche meiner Kollegen eine Kreditklemme, die zu einer tiefen Rezession führt. Eine ganze Reihe wirtschaftlicher und finanzieller Paradoxa macht es aber schwer, dieses Risiko abzuschätzen. Angesichts dieser Unwägbarkeiten und des geringen ‚Signal-Rausch-Verhältnisses‘ in den Daten überrascht es nicht, dass die Zinsvolatilität hoch geblieben ist – und zunächst wohl auch so bleiben wird.

Im Hinblick auf die Vermögensallokation sollten sich die Anleger aber an die längerfristige historische Entwicklung erinnern. US-Aktien haben US-Anleihen in den vergangenen 80 Jahren auf rollierender 12-Monats-Basis in 67 Prozent dieses Zeitabschnitts um durchschnittlich sieben Prozentpunkte übertroffen. Vor diesem Hintergrund bezeichnet sich unser Head of Multi Asset, Sébastian Page, daher trotz hoher Bewertungen und schlechter Gewinnaussichten als ‚zurückhaltenden Bären‘ bei US-Aktien. Sein Ratschlag passt in einen Glückskeks: Bleiben Sie investiert, bleiben Sie diversifiziert.

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