28.11.2024, 13:15 Uhr
«An Aktien führt kein Weg vorbei», war eine (richtige) These der St. Galler Kantonalbank für 2024. Das Motiv werde im neuen Jahr noch stärker sein, sagt Anlagechef Thomas Stucki. Weiter sinkende Zinsen stehen...
Folgt nach einem der schlechtesten Börsenhalbjahre seit langem eine Erholung? Oder wird alles nur noch schlimmer? Wie stets bei Wendepunkten ist die Verunsicherung an den Märkten gross, und dieses Mal werfen nicht nur die Zinsen, sondern auch die Geopolitik, die Energiezukunft und die Konjunktur Fragen auf. Ein Querschnitt, wie Expertinnen und Experten die nähere Zukunft sehen.
Geldpolitik, Energiepreise und Konjunktur sind die Faktoren, auf welche die St. Galler Kantonalbank ihr Hauptaugenmerk richtet. Von ausschlaggebender Bedeutung für den weiteren Marktverlauf ist die Geldpolitik der US-Notenbank. Aber auch die anderen Zentralbanken sind "in die Gänge gekommen und signalisieren deutlich, dass die gestiegene Inflation einen neuen geldpolitischen Kurs verlangt", erklärt die Leiterin Anlagestrategie und Analyse, Caroline Hilb Paraskevopoulos.
Nach einer gewissen Anpassungsphase würden die Aktienmärkte mit den höheren Zinsen umgehen können. Entscheidender sei, dass sich die Unternehmen an die neue Ausgangslage anpassen könnten. "Gerade für Schweizer Unternehmen bedeutet die neue SNB-Geldpolitik wieder einen stärkeren Franken, was zusammen mit den allgemein höheren Kosten eine Herausforderung darstellt", umreisst sie die insgesamt weiter vorsichtige Haltung der Bank, die noch keine Entspannung für die Aktienmärkte sieht.
Bei den Öl- und Gaspreisen gibt es noch keine Trendwende, "und diese höheren Kosten belasten die ganze Wirtschaft – Unternehmen und private Haushalte. Das wird die Konjunkturentwicklung negativ beeinflussen." Zwar liege gerade da die Chance, wendet Hilb ein: Wenn die Konjunktur schwächelt und die Nachfrage nach Energie und Rohstoffen nachlässt, werden auch die Preise sinken.
Dieser Mechanismus zeige sich bereits bei den Industriemetallen. Allerdings gelte es zu beachten, dass die Konjunktur zuerst sinken werde und erst dann die Rohwarenpreise. "An den Märkten könnte dies nochmals für Unsicherheit sorgen", meint sie.
Beat Thoma, CIO von Fisch Asset Management, verweist auf die leichte Abschwächung des Arbeits- und des Immobilienmarkts in den USA. "Das hat noch keinen starken negativen Einfluss auf die Konjunktur, dämpft aber die Inflation und insbesondere die Inflationserwartungen", hält er fest. Der Immobilienmarkt ist seit einiger Zeit überhitzt. Aber die Lage sei in keiner Art und Weise mit der Subprime-Krise der Jahre 2007 und 2008 zu vergleichen. "Die heutige Marktstruktur ist solider und die Abkühlung gesund. Entsprechend rechnen wir vorerst nicht mit einer Rezession", betont Thoma.
Aktuelle und vorauseilende Konjunkturindikatoren wie Auftragseingang, Konsumausgaben und die noch steile Zinskurvenstruktur deuteten aktuell auf genügend Konjunkturmomentum hin. Zudem würden sich die Unternehmensgewinne trotz Wirtschaftsabschwächung gemäss Thoma sehr solide entwickeln. "Selbst bei einer milden Rezession dürfte dies zumindest dem Aktienmarkt und Unternehmensanleihen eine gewisse Stütze verleihen."
Über die Inflationserwartungen behielten die Notenbanken die Kontrolle, führt Thoma weiter aus und befürchtet, dass sich das energische Vorgehen der Fed mittelfristig als zu restriktiv erweisen und einen so genannten 'policy mistake' darstellen könnte. Die EZB wiederum wolle ab Ende Juli ebenfalls die Leitzinsen erhöhen, bleibe aber wesentlich weniger restriktiv als die Fed. China und Japan lockern ihre Geldpolitik sogar weiter und wirkten damit nicht nur konjunkturell, sondern auch geldpolitisch global ausgleichend.
Zudem habe die EZB ein 'Anti-Fragmentierungs-Tool' angekündigt. Damit wolle sie verhindern, dass die Zinsen in den Euro-Peripheriestaaten weiter steigen. Bereits die Ankündigung dieses Plans habe zu einer Beruhigung bei den langfristigen Zinsen in Italien und Spanien geführt. Die über diese Methode in Staatsanleihen der Peripheriestaaten investierten Gelder würden zudem 'sterilisiert'. "Das heisst, die EZB verkauft oder emittiert andere Wertpapiere, um die Geldmenge insgesamt nicht zu erhöhen. Damit dürfte insgesamt ein für den Euro positiver Einfluss entstehen", so der CIO.
Ähnlich wie Fisch AM sieht es punkto Inflation sieht es der US-Vermögensverwalter AllianceBerstein. In weiten Teilen Asiens herrsche nicht die gleiche Art von Preisdruck wie anderswo. Während die westlichen Zentralbanken die Geldpolitik straffen, bleibe die Politik in Japan extrem akkommodierend. Die chinesischen Entscheidungsträger lockerten sowohl die Steuer- als auch die Geldpolitik, um ihre Wirtschaft auf Kurs zu bringen.
"Sobald die Inflation im Westen zurückgeht, dürfte die unterstützende Politik in Asien dazu beitragen, die Weltwirtschaft wieder anzukurbeln", geben sich die Experten aus Übersee vorsichtig optimistisch, auch wenn sie einräumen, "dass in der Zwischenzeit die Volatilität das dominierende Thema an den Finanzmärkten bleiben wird."
Dass die US-Notenbank der hohen Inflation "absolute Priorität einräumt und zu weiteren drastischen Zinsanhebungen in den kommenden Monaten bereit ist", hält Axel D. Angermann, Chefökonom der FERI-Gruppe in Deutschland, "für überfällig und ist angesichts einer Inflationsrate von mehr als 8% in den USA nicht überraschend."
Dennoch markierten die Beschlüsse und verbalen Einlassungen verschiedener Mitglieder des Federal Open Market Committee (FOMC) eine Zäsur in der Geldpolitik: Erstmals seit mindestens zwanzig Jahren befinde sich die Fed wieder in einem Konflikt zwischen dem Ziel der Preisstabilität und der Vollbeschäftigung. Die für die Rückführung der hohen Inflationsraten notwendigen geldpolitischen Massnahmen werde in den Augen von Angermann aller Voraussicht nach die gesamtwirtschaftliche Aktivität nicht nur dämpfen, sondern eine Rezession auslösen, deren Folge auch steigende Arbeitslosenquoten wären.
Allerdings habe die Fed vor knapp zwei Jahren angekündigt, höhere Inflationsraten zu tolerieren. Mit Blick auf die Finanzierung der hohen Staatsverschuldung ist es für den FERI-Chefvolkswirt "mindestens denkbar, dass die Notenbanken nicht an dauerhaft hohen Zinsen interessiert sind." Dies sei einer der Gründe, weshalb auch nach Beendigung der derzeitigen Ausnahmesituation mit dauerhaft höheren Inflationsraten gerechnet werden müsse als in den zwanzig Jahren vor Corona.
Für die Raiffeisen Bank stehen die Unternehmensgewinne im Fokus: Ab Mitte Juli startet die Gewinnsaison zum zweiten Quartal." Aufgrund der stark gestiegenen Inputkosten, den anhaltenden Lieferengpässen sowie den höheren Finanzierungskosten gehen wir von einem Rückgang der Gewinnmargen aus", schreibt sie in ihrer Halbzeitbilanz. Einige Firmen dürften ihre Jahresprognosen nach unten revidieren müssen. Für die anstehende Gewinnsaison bestehe Enttäuschungspotenzial, und Rezessionssorgen nähmen zu.
Die jüngsten Einkaufsmanagerindizes (PMI) deuteten auf eine anhaltende Abschwächung der Konjunktur hin. Auch das Konsumentenvertrauen habe aufgrund der hohen Teuerung einen mehrjährigen Tiefstand erreicht. "Hinzu kommt die Sorge, dass die Notenbanken mit einem zu starken Tritt auf die geldpolitische Bremse die Wirtschaft abwürgen."
Eine Opportunität sieht Raiffeisen bei Anleihen: Mit Obligationen würden sich mittlerweile wieder positive (nominelle) Renditen erzielen lassen, ohne massive Abstriche bei der Schuldnerqualität vorzunehmen. "Wir haben den deutlichen Kursrückgang bei Investment-Grade-Anleihen genutzt, um unser starkes Untergewicht in der Anlageklasse abzubauen. Im Gegenzug reduzieren wir die Position bei Hochzinsanleihen sowie die Cash-Quote. Damit erhöht sich sowohl unser Exposure als auch die Qualität innerhalb der Anleihen", berichtet die Bank.
Für die US-Grossbank J.P. Morgan besteht das grösste Risiko darin, dass ein starker Rückgang der Verbrauchererwartungen wie jüngst im Juni nicht selten ein Warnsignal für eine bevorstehende Rezession war. Zwar gab es in diesem Jahr eine deutliche Bewertungskorrektur an den Aktienmärkten, was bereits ein gewisses Rezessionsrisiko widerspiegelt.
"Dennoch entwickeln sich Aktien in der Regel am besten, wenn das Verbrauchervertrauen steigt. Daher sind wir der Meinung, dass ein ausgewogenes Portfolio mit einer neutralen Aktienallokation wahrscheinlich vorerst sinnvoll ist", ergänzt das Institut.
Positive Worte hat die Bank Pictet für die Schweiz übrig. Trotz schwierigem globalen Umfeld zeige sich das Land widerstandsfähig, urteilt Nadia Gharbi, Senior Economist von Pictet Wealth Management: "Die Schweizer Wirtschaft hat die Coronakrise relativ gut überstanden und ist mit einem erheblichen Wachstumspotenzial ins Jahr 2022 gestartet." Der Krieg in der Ukraine, der Anstieg der Rohstoffpreise und anhaltende Engpässe, die durch die chinesische Nullzins-Politik noch verstärkt wurden, hätten auch der Schweizer Wirtschaft Gegenwind beschert, doch bisher habe sie sich als widerstandsfähig erwiesen.
Was die Inflation angeht, rechne man mit einer Gesamtinflation bis zum Jahresende von über 2,0%, bevor sie sich allmählich abschwächen werde. Die SNB werde den Leitzins im September um weitere 50 Basispunkte und anschliessend bei jeder vierteljährlichen Sitzung bis mindestens März 2023 um 25 Basispunkte anheben. Erfüllt sich die Prognose, würde der Leitzins so auf mindestens 0,75% steigen.