Europas Gasabhängigkeit erschwert Klimapolitik

Eine höhere Akzeptanz für Kernenergie könnte die Energiewende erleichtern. (Bild: Shutterstock/ TonyV3112)
Eine höhere Akzeptanz für Kernenergie könnte die Energiewende erleichtern. (Bild: Shutterstock/ TonyV3112)

Die aktuelle Energiemarkt-Entwicklung führt die hohe Abhängigkeit Europas vom Erdgas klar vor Augen. Wie diese Abhängigkeit mit Europas Plänen zur CO2-freien Energieerzeugung zu vereinbaren sind, erklärt Linus Claesson von Neuberger Berman.

22.10.2021, 16:31 Uhr
Nachhaltigkeit

Redaktion: ras

Der jüngste Anstieg der Gas- und Strompreise offenbart in Europa ein immer fragileres Energiesystem. Die fortschreitende Schliessung von Kohle- und Kernkraftwerken und der erhöhte Druck am Kohlenstoffmarkt führen dazu, dass Europa immer stärker auf Erdgas angewiesen ist. 60% des Erdgases stammen aus Importen. Das wirft Fragen über die Gesamtanfälligkeit des Systems auf.

Wäre der Gasmarkt in Europa vor einigen Jahren ähnlich angespannt gewesen, hätte der Versorgungssektor, auf den 34% der Gasnachfrage in Europa entfallen, die Gasnachfrage heruntergefahren. "Die höheren Gaspreise hätten dann Anreize für kohlenstoffintensivere Alternativbrennstoffe für die Stromerzeugung geboten", betont Linus Claesson in seinem Kommentar.

Alte Mechanismen funktionieren nicht mehr

Dazu ist es in der gegenwärtigen Situation nicht gekommen. Zum Teil ist das auf einen anziehenden Kohlenstoffmarkt in Europa zurückzuführen: Sind die Erdgaspreise heute höher als die Preise für Kohle, sei es, weil sie im Vergleich stärker steigen oder weniger fallen, bietet das Anreize für die Kohleverstromung. Aufgrund des höheren Kohlenstoffgehalts in der Kohle steigt damit einhergehend die Nachfrage nach Kohlenstoffzertifikaten. Dadurch steigen dann wiederum die Kohlenstoffpreise, bis schliesslich ein Ausweichen auf diese Brennstoffe nicht mehr rentabel ist und Erdgas wieder bevorzugt wird.

Das bedeutet, dass die Preise auf einem angespannten Gasmarkt theoretisch so lange steigen könnten, bis die Nachfrage an anderer Stelle in der Wirtschaft gedrosselt wird, beispielsweise in energieintensiven Industrien wie der Düngemittel-, Glas- oder Stahlproduktion. Das könnte sich wiederum auf die gesamte Wirtschaft auswirken. Vor diesem Hintergrund wird es für Europa laut Claesson immer schwieriger, die zunehmende Abhängigkeit von Gasimporten mit strengeren Umweltauflagen in Einklang zu bringen.

Kernenergie könnte helfen

Niemand möchte zu dem alten kohlenstoffintensiven Energiesystem zurückkehren. Europas Lösung für die mangelnde Selbstversorgung besteht darin, den Einsatz erneuerbarer Energieerzeugung zu beschleunigen. Sie wird weitgehend als deflationär für die Energiekosten angesehen, während sie gleichzeitig Europas Abhängigkeit von Gas verringert und die Kohlenstoffemissionen begrenzt. "Wir gehen davon aus, dass sich der Einsatz erneuerbarer Energieerzeugung in den nächsten zehn Jahren im Vergleich zum letzten Jahrzehnt um den Faktor drei oder vier steigert", meint Claesson.

Aber trotz der ehrgeizigen Pläne für erneuerbare Energie seien erhebliche Investitionen in andere Quellen der Grundlastkapazität erforderlich. Der erste Schritt könnte darin bestehen, dass Europa die Kernenergie im Rahmen der EU-Taxonomie als praktikable kohlenstofffreie Alternative anerkennt. Eine weitere Möglichkeit wäre, Erdgas als Übergangskraftstoff anzuerkennen, um Anreize für ausreichende Investitionen zu schaffen und die Abhängigkeit von geopolitischen Fragen sowie der globalen Angebots-Nachfrage-Dynamik zu verringern. Gleichzeitig könnte so die Lücke zwischen den Energiesystemen der Vergangenheit und den klimaneutralen Lösungen von morgen überbrückt werden.

"Wir sind davon überzeugt, dass diese übergreifenden Trends nachhaltige, langfristige Investitionsmöglichkeiten in Unternehmen bieten, die zum Aufbau eines robusten kohlenstofffreien Energiesystems beitragen. Sie bieten Chancen, jahrzehntelang von einer beschleunigten Energiewende zu profitieren", folgert Claesson. Als grosse Gewinner der heutigen Volatilität des Energiemarktes nennt er die Betreiber von Kernkraftwerken, die Entwickler erneuerbarer Energien und Unternehmen, die in die Widerstandsfähigkeit der Energiesysteme investieren.

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