14.04.2023, 09:59 Uhr
«Sind niedrigere Staatsschulden, positive Realzinsen und die Finanzierung der Energiewende miteinander vereinbar?», fragt sich Niall O’Sullivan, Chief Investment Officer, Multi Asset Strategies – EMEA bei...
Die seit dem Sommer ungünstigen Mikro- und Makrofaktoren drehen sich allmählich. «Ein langfristiger Aufwärtstrend scheint denkbar», schreibt Hakan Kaya, Senior Portfolio Manager Commodities bei Neuberger Berman.
Seit dem Ausverkauf im November sind Rohstoffe zwischen Makro- und Mikrofaktoren hin- und hergerissen. Sie entwickelten sich daher meist seitwärts. Auf der Makroseite haben die straffere Geldpolitik, die Energiekrise in Europa und die Corona-Lockdowns in China die Risikobereitschaft von Unternehmen und Investoren gedämpft.
Auf der Mikroseite führte das dazu, dass Lebensmittelhersteller, Industrieunternehmen und Versorger Lagerbestände abbauten oder Lager nicht mehr auffüllten. Bisweilen sind ihre Vorräte gefährlich geschrumpft.
Neuberger Berman glaubt, «dass der Rohstoffzyklus jetzt seine Richtung ändert – wegen alter und neuer Entwicklungen, vom Neustart der Wirtschaft in China bis zu grünen Investitionen. All das wird sich schon bald auf die Rohstoffmärkte auswirken. Wenn der Lagerabbau zu Ende geht und die Vorräte wieder aufgefüllt werden, könnten Rohstoffe neuen Auftrieb erhalten».
Nach dem Ende der Coronarestriktionen in China und dem Neustart der chinesischen Wirtschaft würden die knappen Vorräte schon jetzt zu einem Problem, schreibt Hakan Kaya. Alle Daten zeigten, dass die Mobilität in den Städten wieder wachse. Die neue Mobilität sei grenzüberschreitend; mit dem Neustart Chinas öffne sich die gesamte Pazifikregion.
In- und ausländische Flugrouten würden wieder bedient, neue kommen hinzu. «Man rechnet damit, dass die Kerosinnachfrage in der ersten Jahreshälfte um etwa 1,5 Millionen Barrel täglich steigt, mit Auswirkungen auf andere Rohstoffe: Chinas Bestände an billigem Öl und billigen Raffinerieprodukten aus Russland schrumpfen. Schon bald könnten sie nicht mehr reichen und müssen möglicherweise aufgefüllt werden», fügt der Rohstoff-Spezialist aus.
Mit einer höheren Energienachfrage rechne er aber auch in Europa. «Nach dem warmen Winter scheinen die im letzten Jahr so hohen Energiepreise vergessen. Jetzt könnte sich die Wirtschaft wieder erholen, sodass Energie- und Metallnachfrage zulegen. Entscheidend dürften aber die höheren grünen Investitionen sein.»
Für grüne Investitionen könnte 2023 ein Meilenstein sein. Manche Länder wollten damit die Inflation langfristig dämpfen, andere wollten zu Marktführern werden, und wieder andere müssten in Bereichen aufholen, in denen sie bisher noch nicht wirklich konkurrenzfähig sind.
Selbst während der Lockdowns sei in China letztes Jahr die Kupfernachfrage gestiegen, denn es wurden so viele Elektroautos verkauft wie noch nie. «Wenn China und andere Emerging Markets eine autarke Elektroautoindustrie aufbauen, die lokale Rohstoffe nutzt, fallen weltweit die Emissionen.» Ausserdem gliechen sich die Wettbewerbsbedingungen an, nachdem es die Emerging Markets bei Verbrennungsmotoren nie wirklich mit den klassischen Industrieländern aufnehmen konnten. «Es fehlte ihnen an Technologie und Know-how.»
In den USA wiederum könnte der Inflation Reduction Act in den nächsten zehn Jahren grüne Investitionen in Höhe von 1,6 Billionen US-Dollar ermöglichen. Vorgesehen sind Subventionen und andere Staatshilfen für Unternehmen, die in den USA grüne Fabriken und grüne Infrastruktur bauen oder generell umweltfreundlicher arbeiten.
«Eine solche China- oder America-First-Politik könnte grüne Investitionen aus Europa abziehen. Aber auch Europa möchte bei der Energiewende führend sein. Viel spricht deshalb für ein ähnliches Programm in der EU, vielleicht mit etwa 4 Billionen US-Dollar Volumen in den nächsten zehn Jahren», heisst es bei Neuberger Berman.
Das bisweilen durchaus begrüssenswerte Streben nach Autarkie und Führung bei grünen Technologien dürfte den Wettbewerb um Kapital anheizen – anders als früher, als die Produktion oft sehr zentralisiert war und umso mehr exportiert wurde.
«Letztes Jahr sind die Lagerbestände vieler potenziell grüner Rohstoffe geschrumpft – Kupfer, Aluminium, Zink, Nickel, Silber und Platin. Es liegt daher nahe, dass manche Länder jetzt Vorräte aufbauen. Sie wollen auf der sicheren Seite sein, wenn dieses Jahr Investitionen in Höhe von gut 6 Billionen US-Dollar anstehen», folgert der Spezialist.
Ein Grossteil der Rohstoffnachfrage infolge der Energiewende betreffe Metalle für die Elektrifizierung. Der Bedarf an Biokraftstoffen könnte aber ebenfalls steigen.
Manche Ölraffinerien wurden schon zu Biokraftstoffraffinerien umgebaut, die Getreide als Rohstoff nutzen. In den letzten zehn Jahren hat sich die Herstellung von Biodiesel mehr als verzehnfacht, und die amerikanische Energy Information Administration erwartet, dass sie sich in den nächsten drei Jahren noch einmal mehr als verdoppelt.
Die alte Politik nach dem Motto «Nahrungsmittel zuerst für Mensch und Tier» werde durch «Nahrungsmittel zur Energieerzeugung» ersetzt. Aus etwa 50 Prozent der amerikanischen Maisernte und 35 Prozent des Sojabohnenschrots wird schon jetzt Biokraftstoff produziert. «Um den Energiemix zu diversifizieren und die Energieversorgung zu sichern, müssen unserer Ansicht nach Getreidevorräte angelegt werden. Nur so lassen sich Ernteausfälle durch Wetter, Krankheiten und Lieferstörungen ausgleichen», heisst es dazu.
In den vergangenen sechs Monaten verzichteten viele Firmen wegen der unsicheren Wirtschaftslage auf eine umfangreiche Vorratshaltung. «Weil Chinas Wirtschaft wieder zu arbeiten beginnt, Europa von sehr viel niedrigeren Energiepreisen profitiert und die frühe Straffung der US-Geldpolitik bald zu Ende gehen dürfte, rechnen wir damit, dass die Lager wieder gefüllt werden. Die Risikobereitschaft steigt wieder», heisst es im jüngsten Ausblick.
Mikrofaktoren wie die Fördermengenkürzungen der OPEC, die geringere Schieferölproduktion in den USA und das Ende der Freigabe von Öl aus der strategischen Reserve dürften bewirken, dass die Lagerbestände an Energie, Rohstoffen und Biokraftstoffen knapp bleiben. Wegen der absehbaren hohen grünen Investitionen könnten Metalle das Öl von morgen werden. Es kann daher noch länger dauern, bis sich die Inflation erkennbar normalisiert. Vielleicht drohe sogar eine strukturelle «Greenflation».
Noch dämpfe die schwächere Konjunktur aber die Marktstimmung. «Die zurzeit recht niedrigen Rohstoffpreise könnten für Anleger daher ein interessanter Einstiegszeitpunkt sein - zumal Rohstoffe Portfolios recht gut vor Inflation schützen können», folgert der Senior Portfolio Manager Commodities bei Neuberger Berman.