23.12.2024, 08:37 Uhr
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Die hohe Unsicherheit bei Schlüsselfaktoren wie Inflation, Wachstum, Geldpolitik und Marktliquidität lastet kurzfristig auf den Kapitalmarktperspektiven. Union Investment erwartet einen langsamen, aber stetigen Inflationsrückgang in den USA im zweiten Halbjahr. Zudem ende die rasche geldpolitische Normalisierung bevor sie die Konjunktur zu stark belaste.
Das Kapitalmarktjahr 2022 markiert laut Andreas Köster, Leiter Portfoliomanagement und Mitglied des Union Investment Committee, in mehrfacher Hinsicht eine Zeitenwende. "Die Corona-Pandemie hat bestehende Trends beschleunigt, andere abgebrochen und wieder andere ausgelöst. Zudem legt die Inflation kräftig zu und mit ihr steigen die Zinsen", sagt er. Zudem erfordere der russische Einmarsch in die Ukraine eine Neubewertung politischer Risiken.
Dieser dreifache Richtungswechsel führt zu einer Neukalibrierung des Kapitalmarktumfeldes. "Das alte 'Vor-Corona-Gleichgewicht' mit niedriger Inflation, ultralockerer Geldpolitik und geringer geopolitischer Risikoprämie trägt nicht mehr», präzisiert Köster. "Derzeit befinden wir uns im Übergang in ein neues Post-Corona-Gleichgewicht, von dem bislang nur Umrisse wie höhere Inflationsniveaus oder eine Rückkehr des Grossmachtwettbewerbs auf die internationale Bühne erkennbar sind. Diese Übergangshase ist mit hoher Unsicherheit verbunden und das lastet aktuell auf den Kapitalmärkten und der Konjunktur."
Aus Investorensicht sieht Köster vier Kernpunkte als entscheidend für den weiteren Verlauf des Börsenjahres: Inflation, Wachstum, Geldpolitik und Marktliquidität. "Bei diesen Themen herrscht aktuell grosse Unklarheit – und so lange das so bleibt, werden die Kurse kaum steigen", meint er. In den ersten Monaten des Jahres waren vor allem Inflationssorgen prägend für die Kapitalmärkte. "Der Inflationsdruck hat sich verstetigt und verbreitert, sodass wir eine Rückkehr zu den Vor-Corona-Niveaus so schnell nicht wieder sehen werden», ist Köster überzeugt.
Allerdings rechnet er beginnend in den USA mit rückläufiger Teuerung im Jahresverlauf. Viele realwirtschaftliche Verspannungen würden sich lösen, von Lieferketten bis zu überdimensionierter Güternachfrage. Die Inflation werde daher in den USA als auch später in Europa langsam, aber stetig sinken. Das nimmt Druck von der Geldpolitik, den Bogen nicht zu überspannen, was in der Vergangenheit leider am Ende zu oft der Fall war. Für das Gesamtjahr 2022 sehen die Prognosen von Union Investment einen Anstieg der Verbraucherpreise um 7,4 Prozent vor, während der Wert im Euroraum bei 7,3 Prozent liegen dürfte. Ein durchgreifender Rückgang ist demnach erst im Jahr 2023 zu sehen, wo sich die Inflation in beiden Volkswirtschaften etwa halbieren dürfte.
Der nur langsame Rückgang der Teuerung bleibt nach Ansicht Kösters weiter eine Quelle der Unsicherheit. "Entscheidend ist, ob die Notenbanken die Inflation in den Griff bekommen – oder über das angekündigte Mass hinaus straffen müssen», meint er. Eine weitere Voraussetzung dafür ist eine deutliche Entspannung in der Realwirtschaft. Andernfalls bestünde die Gefahr, dass die Währungshüter im Kampf gegen die Inflation eine Rezession auslösen. "Diese Sorge wird uns mindestens über den Sommer begleiten», erwartet er. Eng werde es dabei im Euroraum, da wir uns aufs Gesamtjahr gesehen bereits nahe der Stagnation befinden. Für die USA ist Köster optimistischer. Damit verringert sich das Risiko eines weltweiten Wirtschaftsabschwungs.
Konkret erwartet der Kapitalmarktstratege in den Vereinigten Staaten Leitzinsanhebungen durch die US-Notenbank Federal Reserve (Fed) um weitere 175 Basispunkte bis Jahresende, beginnend mit zwei 50er Schritten im Juni und Juli. "Die Straffungsmassnahmen der Fed sind gut kommuniziert und daher am Markt bereits weitgehend verarbeitet», erläutert Köster. Er geht deshalb nur noch von geringem Aufwärtsdruck auf die US-Zinsen aus und prognostiziert für US-Treasuries mit zehnjähriger Laufzeit ein Renditeniveau von rund 3,15 Prozent zum Jahresende. Anders stellt sich die Situation hingegen bei der Europäischen Zentralbank (EZB) dar. "Der geldpolitische Schwenk der EZB steht erst noch bevor. Insbesondere rund um die Juli-Sitzung kann es an den europäischen Anleihemärkten turbulent werden», warnt er. Weitere Renditeanstiege im Euroraum hält er insbesondere im kurzlaufenden Bereich für möglich, während bei Anleihen mit zehnjähriger Laufzeit nur noch geringe Steigerungen wahrscheinlich sind.
"In der Kombination von hartnäckig hoher Inflation, anhaltender Angebotsprobleme und zu starker Straffung der Geldpolitik liegt das grösste Risiko für die Konjunktur», hält Köster fest. Daher hätten Wachstumssorgen die Inflationsthematik als dominanten Markttreiber zurecht abgelöst, denn das Risiko für ein Abrutschen der Weltwirtschaft in die Rezession sei deutlich gestiegen. Allerdings geht er davon aus, dass den Notenbanken die Gratwanderung zwischen Inflationsbekämpfung und Konjunkturschutz gelingt. Auch aus China erwartet er positive Impulse durch eine erfolgreichere Corona-Bekämpfung mit schnellen, harten und zielführenden Lockdowns sowie zusätzlichen Hilfen durch Geld- und Fiskalpolitik. Den US-Konsum zählt Köster ebenfalls zu den Konjunkturstützen. "Die amerikanischen Haushalte haben in der Pandemie hohe Rücklagen gebildet, profitieren über steigende Einkommen vom boomenden Arbeitsmarkt und befinden sich daher in einer sehr guten Finanzsituation. Das schützt den Konsum vor einem scharfen, inflationsausgelösten Einbruch.» Köster rechnet daher trotz der Belastungen aus steigenden Preisen und strafferer Geldpolitik für die US-Wirtschaft mit einem Wachstum von 2,4 Prozent für 2022.
Weniger zuversichtlich ist Köster für den Euroraum, der stärker unter den Folgen des Ukraine-Krieges leidet: "Wir erwarten, dass sich der Krieg in der Ukraine noch etliche Monate hinziehen wird.» Damit sieht er auch keine deutliche Entspannung bei hohen Rohstoffpreisen oder den Problemen mit Lieferketten in die Ukraine. Hinzu kommt aktuell noch die schwache Exportnachfrage aus China. "Das Wachstum im Euroraum ist zum Erliegen gekommen», folgert Köster. In der zweiten Jahreshälfte rechnet er mit einer moderaten Erholung. Insgesamt hält er übers Jahr ein Wachstum von 2,1 Prozent für realistisch, in Deutschland von lediglich 1,4 Prozent. Sollte es zu einem Stopp der Lieferungen von russischem Erdgas kommen, so wäre eine Rezession wohl unvermeidlich.
In den kommenden Monaten dürfte das Kapitalmarktumfeld daher von einer Mischung aus hohen Inflationsraten, Spekulationen um den Kurs der Zentralbanken und Wachstumssorgen geprägt sein. "In dieser Phase werden es chancenorientierte Anlagen schwer haben», analysiert Köster. Zudem könnte diese Kombination dazu führen, dass eine vorübergehend schwache Marktliquidität und risikomanagementbedingte Portfolioanpassungen grosser Investoren möglicherweise die Lage zusätzlich erschweren. "An den Kapitalmärkten ist vorübergehend Vorsicht geboten», fasst er zusammen. Allerdings rechnet er mit einer Verbesserung im Jahresverlauf: "Wir werden in den nächsten Monaten mehr Klarheit haben.»
Vor diesem Hintergrund setzt Köster auf hohe Aktivität, relative Positionen und sorgfältige Titelselektion. Das schwankungsanfällige, fragile Umfeld erfordert demnach also häufigere und kurzfristiger angelegte Investitionsentscheidungen als in ruhigeren Marktphasen. Zudem spreche viel dafür, innerhalb einzelner Anlageklassen die Attraktivitätsunterschiede verschiedener Subsegmente gegeneinander auszuspielen (relative Positionen bzw. "Pair Trades»), zum Beispiel durch eine stärkere Gewichtung von Substanz- gegenüber Wachstumswerten auf der Aktienseite. Insgesamt hält der Kapitalmarktstratege Aktien zwar kurzfristig für belastet, langfristig aber weiter für unverzichtbar. "Trends wie die nachhaltige Transformation unserer Volkswirtschaften sind intakt und bieten nach wie vor Anlagechancen», nennt er ein vielversprechendes Investitionsfeld. Ausserdem sieht er in den derzeit wirkenden Marktkräften die Möglichkeit für aktives Stockpicking. "Die Ertragslage im Unternehmenssektor ist weiterhin gut – nur nicht überall. Firmen mit hoher Preissetzungsmacht sind klar im Vorteil», führt Köster an. Zudem sollten die Belastungsfaktoren im Jahresverlauf an Stärke verlieren und damit den Weg für erneute Kurszuwächse frei machen. Für den deutschen Leitindex DAX hält Köster daher zum Jahresende einen Wert von 15'100 Punkte für durchaus realistisch.
Auch für Unternehmensanleihen haben sich die Marktaussichten zunächst verschlechtert, insbesondere im Euroraum. "Bislang tritt die EZB noch als starker, wenig preissensitiver Käufer von Anleihen auf. Diese Unterstützung wird im Frühsommer auslaufen und Peripherie- und Unternehmensanleihen belasten», analysiert er. Für eine Verbesserung der Perspektiven hält Köster mehr Klarheit bei den genannten Kernfragen für notwendig.
Rohstoffe waren bislang eine der wenigen Anlageklassen, die seit Jahresanfang Zuwächse verzeichnen konnten. Köster ist skeptisch, ob diese Entwicklung in gleichem Maße anhält. "Ölprodukte dürften über den Sommer noch knapp bleiben, aber danach sollte sich die Lage durch neu hinzukommendes Angebot entspannen", sagt er. Die Experten bei Union Investment haben daher ein Preisziel von 95 US-Dollar je Barrel Rohöl der Nordseesorte Brent zum Jahresende errechnet. Deutlich aussichtsreicher sollten hingegen die Industriemetalle sein, die von einer Belebung der Konjunktur in China profitieren dürften.
Es liegen also schwierige Monate vor den Kapitalmärkten, in deren Verlauf mit Turbulenzen zu rechnen ist. Allerdings erwartet Köster mit zunehmender Klarheit über die künftige Entwicklung bei Inflation, Geldpolitik und Wachstum auch wieder mehr Raum für Kurszuwächse bei chancenorientierten Assets. "Kurzfristig sollte man auf der Hut sein. Mittelfristig nehmen die Chancen wieder zu, und die sollte man nicht verpassen. Und langfristig stehen die Börsen vor fundamentalen Richtungswechseln, die uns in ein stark verändertes Umfeld führen werden», fasst er die Aussichten für Anlegerinnen und Anleger zusammen.