23.12.2024, 08:37 Uhr
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Die Zentralbanken trugen in den letzten zwölf Monaten entscheidend zu grösseren Kursschwankungen bei. Benjamin Melman von Edmond de Rothschild AM hinterfragt, ob und wie weit sie es noch wagen, sich aus dem Fenster zu lehnen.
Die Fundamentaldaten deuten auf eine Konjunkturabkühlung hin, die Kursausschläge sind jedoch vor allem eine Reaktion auf die Eingriffe der Zentralbanken. Die US-Notenbank Federal Reserve (Fed) spielt dabei eine führende Rolle: Noch 2018 wollte die amerikanische Zentralbank ihre Geldpolitik normalisieren, in diesem Jahr hat sie einen Kurswechsel vollzogen. Sollte sich die Konjunktur nicht schnell erholen, will die Fed durch eine oder mehrere Zinssenkungen die Zügel lockern und so die Finanzierungskonditionen verbessern.
"Die Fed – und in geringerem Umfang auch die Europäische Zentralbank – waren nicht nur massgeblich für die Kurseinbrüche im vierten Quartal 2018 verantwortlich, sondern haben mit ihrer Kehrtwende auch entscheidend zu der robusten Erholung seit Jahresanfang beigetragen", sagt Benjamin Melman, Global CIO bei Edmond de Rothschild AM.
Zweifellos sei die Konjunkturabkühlung, welche die Zentralbanken zum Handeln veranlasste, zu einem grossen Teil durch einen Stimmungseinbruch bei den Unternehmen ausgelöst worden, nachdem sich Trump schon vor Wahlkampfbeginn für die nächste US-Präsidentschaftswahl im kommenden Jahr für eine protektionistische Wirtschaftspolitik ausgesprochen hatte. "Die Unternehmen haben ihre Planungssicherheit verloren, fast überall in der Welt sind die Investitionen deutlich zurückgegangen", folgert Melman.
Wie sich an den Kapitalflüssen ablesen lasse, habe sich auch unter Anlegern eine abwartende Haltung durchgesetzt, die in deutlichem Gegensatz zu der Euphorie an den wichtigsten Aktienmärkten stehe, analysiert er und fügt an: "Wegen der wirtschaftlichen und politischen Unsicherheit und der sinkenden Inflation können sich die Zentralbanken proaktive Eingriffe erlauben und den Märkten gleichzeitig signalisieren, dass Abwarten nicht zu steigenden Zinsen und damit zu einem Teufelskreis zwischen Konjunkturzyklus und Finanzmärkten führt."
Die Zentralbanken haben die Abkopplung der Märkte von den Fundamentaldaten aktiv betrieben, was sich jetzt rächen könnte, befürchtet Melman und gibt ein hypothetisches Beispiel aus dem Lehrbuch: Donald Trump verkündet per Twitter, das Handelskriegsbeil zu begraben. An den Märkten stellen sich daraufhin Zweifel an der von den Zentralbanken in Aussicht gestellten Lockerung der Geldpolitik ein. Turbulenzen an den Anleihenmärkten wären die wahrscheinliche Folge, und auch andere Assetklassen würden wohl in Mitleidenschaft gezogen. Ob Anleger die guten Nachrichten tatsächlich begrüssen würden, sei schwer vorherzusagen – es sei denn, die Zentralbanken würden an der expansiven Politik festhalten, die sich bereits heute aus den Kursen ablesen lässt. Melman ist überzeugt: "In diesem Fall jedoch würden sie eindeutig eine Finanzblase schaffen." Daher müsse man abwägen, inwieweit die Zentralbanken ein solches Risiko eingehen können – eine Frage, die nicht leicht zu beantworten sei.
Die Nachhaltigkeit einer von den Zentralbanken orchestrierten Kursrallye liesse sich nur schwer einschätzen. "Ein Blick auf das kurze Ende der Zinskurve verrät jedoch, dass die Märkte bereits grosszügige Massnahmen einpreisen", so Melman. Gleichzeitig verweigern sich Anleger in Anbetracht der politischen und wirtschaftlichen Unwägbarkeiten hartnäckig jedem Aktionismus - sofern es in den kommenden Wochen nicht zu deutlichen Cashflow-Bewegungen in Anlagefonds kommt. Sollten sich weniger Anleger an der Rallye beteiligen, dürfte auch ihre Wirkung nicht lange anhalten. Melman sieht in den steigenden Kursen daher keinen Anlass zu einem Strategiewechsel. Seine Asset Allokation bleibe ausgewogen, wenn auch etwas vorsichtiger als noch vor einigen Monaten.
Auch das politische Umfeld spricht nach Melmans Meinung für mehr Vorsicht. So sei beispielsweise das Risiko eines harten Brexit in den letzten Wochen gestiegen, auch wenn das britische Pfund kaum Boden verloren hat. Und auch in Italien würden derweil Neuwahlen wahrscheinlicher, die eine Koalition der rechtsextremen Parteien Lega und Fratelli d’Italia an die Macht bringen könnten. "Das ist insofern von Bedeutung, da Matteo Salvini und die anderen Abgeordneten der Lega Nord für die Einführung von Staatsanleihen in kleinen Stückelungen, sogenannte 'Mini-Bots', trommeln", so der Experte.
Das italienische Finanzministerium könnte dann Staatsanleihen ausgeben, mit denen Bürger und Unternehmen auch ihre Steuern bezahlen können. In vielerlei Hinsicht käme dieser Schritt der Einführung einer Parallelwährung gleich, eine Idee, die sogar im Programm der Allianz von Lega Nord und Forza Italia steht. "Interessanterweise reden die grössten populistischen Parteien Europas nicht mehr viel über einen Austritt aus dem Euro, wahrscheinlich weil die Idee die Wähler verschreckt", glaubt Melman. Mit einer Parallelwährung könnten sie dieses Ziel jedoch durch die Hintertür erreichen, ohne das gleiche politische Risiko einzugehen. Er stellt in Frage, ob Italien wirklich so weit gehen würde, behält die Entwicklungen aber genau im Auge.
Staatsanleihen werfen in diesem Umfeld kaum Zinsen ab, gleichzeitig sind die Risikoaufschläge gesunken. Die Anleihenmärkte seien im Moment wenig attraktiv. Der Experte sieht jedoch Potenzial bei Anleihen aus Schwellenländern und nachrangigen Finanzanleihen. Insgesamt sind Melmans Anleihepositionen daher kleiner als gewöhnlich. Er wartet ab, bis er wieder attraktive Anlagemöglichkeiten sieht. Ausserdem habe er die Grenzen des Aktien-Exposures noch lange nicht erreicht.
"Wir befinden uns in der Spätphase des Konjunkturzyklus, die Märkte reagieren mit Kursausschlägen auf politische Risiken. Wir sind uns bewusst, dass die Zentralbanken proaktiv eingreifen und derzeit einen erheblichen Einfluss auf die Märkte haben", so Melman. Aus der aktuellen Kursentwicklung liessen sich jedoch keine verlässlichen Prognosen über zukünftige Renditen ableiten, ausserdem hätten die Indizes in den letzten Wochen bereits erheblich zugelegt. "In einem solchen Umfeld ist eine moderate Investitionsquote sinnvoll", rät er.