Europa im Bann der Botox-Ökonomie

Die politischen Verantwortungs- träger in den westlichen Ländern greifen auf massive Liquiditätsspritzen zurück, um die Überalterung ihrer Volkswirtschaften zu verschleiern. Aber die Finanzmärkte lassen sich nicht so leicht zum Narren halten. Lesen Sie dazu den Kommentar von Ad van Tiggelen.

16.07.2012, 10:12 Uhr

Redaktion: mak

Nach knapp siebzig Wachstumsjahren sind die westlichen Volkswirtschaften inzwischen spürbar gealtert. Sie müssen eine historisch hohe Schuldenlast tragen (im Durchschnitt das Drei- bis Vierfache ihres Bruttoinlandprodukts (BIP), wenn alle Arten von Schulden zusammengerechnet werden. Ausserdem müssen sie mit einer ungünstigen demografischen Entwicklung fertig werden. Im Jahr 2050 wird nahezu jeder dritte Europäer über 65 Jahre alt sein.

Damit verlieren sie ihr natürliches Wachstumspotenzial, das einst von einer jungen Bevölkerung und einer einfachen Schuldenfinanzierung ausging. Deshalb besannen sich die politischen Verantwortungsträger auf die Botox-Economy. Dies spiegelt sich nicht nur im weitverbreiteten Einsatz des Quantitative Easing (QE) wider, sondern auch im Tenor der Konjunkturprognosen westlicher Regierungen. So wird allgemein von einem Rückgang der Haushaltsdefizite auf Null bis etwa 2017 ausgegangen, aber nur unter der Annahme, dass sich das reale Wachstum bis dahin jährlich auf mindestens 2 Prozent beläuft. Dasselbe gefährliche Wunschdenken ist unter Finanzanalysten verbreitet, die weiterhin für 2013 mit einem Wachstum der Unternehmensgewinne um rund 10 Prozent rechnen ein Ziel, das wohl kaum erreicht werden wird.

Bewertungsaufschlag bei US-Aktien
Glücklicherweise lassen sich die Finanzmärkte nicht so leicht zum Narren halten, jedenfalls nicht für lange. Die Aktienmärkte haben sich trotz der rosigen Analystenprognosen bereits auf ein schwaches oder Nullwachstum eingerichtet. Und für qualitativ hochwertige Unternehmen, das heisst internationale Konzerne mit einem globalen Markennamen und einer soliden Bilanz wird zunehmend ein Bewertungsaufschlag fällig. Der Bewertungsaufschlag von US-Aktien gegenüber europäischen Werten hat nahezu ein Rekordniveau erreicht, obwohl die finanzielle Situation der US-Regierung in vielerlei Hinsicht noch ungünstiger zu sein scheint als diejenige des Euroraums insgesamt.

Warum? Weil die Anleger wissen, dass die US-Wirtschaft nicht nur in demografischer Hinsicht jünger ist (2050 wird nicht einmal einer von vier Amerikanern über 65 Jahre alt sein), sondern dass die US-Wirtschaft auch über die zu Grunde liegende Flexibilität verfügt, um sich nötigenfalls zu verjüngen .Darüber hinaus sehen zahlreiche Anleger aus den USA und Asien ein Auseinanderbrechen des Euroraums bereits als unvermeidlich an.

Vermögenserhalt hat Priorität
Irrationalerweise fordern die Finanzmärkte zwar einerseits lautstark mehr Botox, scheinen andererseits aber am wenigsten auf seine Wirkung zu vertrauen. Vorsichtige Anleger gehen daher zunehmend zu Strategien über, die eher den Wert ihres Vermögens tatsächlich schützen als eine hohe Rendite erwirtschaften. Sie zeigen damit implizit, dass sie die Folgen eines Alterungsprozesses akzeptieren, den die politischen Verantwortungsträger verzweifelt mittels Botox bekämpfen wollen.

Auch reale Werte berücksichtigen
Angesichts der beträchtlichen Ausweitung der Zentralbankbilanzen, die durch all diese Liquiditätsspritzen eingetreten ist, diversifizieren kluge Anleger ihr Vermögen auch über verschiedene Währungen und Assetklassen hinweg. Wir rechnen zwar nicht damit, dass bald Inflationsdruck auftritt, aber nominale Vermögenswerte sollten auch bei risikoaversen Anlegern das Portfolio nicht vollständig dominieren.

Reale Vermögenswerte (wie Aktien, Immobilien und Gold) sollten ebenfalls eine Rolle spielen. Solche Vermögenswerte sind zwar nicht immer attraktiv, aber die durch Botox verjüngte Schönheit dürfte sich ebenfalls als vergängliches Phänomen erweisen.

Ad van Tiggelen ist Senior Investment Specialist, Investment Content Management bei ING Investment Management, Den Haag

Alle Artikel anzeigen

Diese Website verwendet Cookies, um Ihnen die bestmögliche Nutzung unserer Website zu ermöglichen.> Datenschutzerklärung