Empathie ist die Voraussetzung für Verständnis

Larry Hatheway, Chefökonom bei GAM.
Larry Hatheway, Chefökonom bei GAM.

Vor genau zwölf Monaten hat Larry Hatheway, Chefökonom bei GAM, seinen Wunschzettel für 2016 formuliert. Dieser umfasste fünf Punkte: eine gerechtere Einkommensverteilung, ein stabiler US-Dollar, höhere Unternehmensinvestitionen, mehr Infrastrukturausgaben und eine gute Prise gesunder Menschenverstand in der Politik. Nun beschäftigt sich Larry Hatheway mit dem Ausblick auf das kommende Jahr.

29.12.2016, 11:15 Uhr

Redaktion: jaz

Leider wurden nur wenige seiner letztjährigen Wünsche in diesem Jahr wahr. Hatheways Meinung nach besteht weiterhin Einkommensungleichheit und Unternehmen halten sich mit Investitionen immer noch zurück. Die Infrastruktur benötige vielerorts nach wie vor sehr dringend finanzielle Impulse. Und was den gesunden Menschenverstand in der Politik angehe... nun, was solle er sagen? Aber wenigstens habe die Stärke des US-Dollar die Weltwirtschaft und die globalen Märkte im Jahr 2016 nicht aus dem Tritt gebracht. Natürlich seien Wünsche keine Vorhersagen. Doch nach reiflicher Überlegung kam Hatheway auf den Gedanken, dass er es möglicherweise übertrieben hatte. Ist weniger vielleicht mehr? Daher findet sich auf seinem Wunschzettel in diesem Jahr nur ein einziger Wunsch: mehr Empathie.

Die Welt steht vor gewaltigen Herausforderungen. Die Chancengleichheit nachhaltig zu verbessern, gewaltsame Konflikte zu bewältigen und Bedrohungen für das Ökosystem zu bekämpfen – das sind nur einige der Ziele auf der globalen Agenda. Doch wie die diesjährigen politischen Entwicklungen in Grossbritannien, den USA oder auch Italien zeigen, sind die Gräben, die uns trennen, deutlich grösser und tiefer geworden. Die Gesellschaft ist so stark gespalten wie zuletzt in den 1960er oder vielleicht sogar in den 1930er Jahren.

Aufgrund dieser Spaltung fällt es zunehmend schwer, eine konkrete Vorstellung zu entwickeln, wie wir diese Herausforderungen meistern können. Doch die Unterschiede, die uns trennen, gehen häufig auf die Unfähigkeit zurück, über die Grenzen unserer eigenen abgeschotteten Welt hinauszublicken und die Dinge aus der Sicht anderer zu betrachten.

Nachfolgend daher ein paar Vorschläge aus Sicht eines Ökonomen und Anlegers, wie wir mehr Einfühlungsvermögen an den Tag legen können:

  • Der Kapitalismus bleibt die beste Möglichkeit, die Lebensqualität der Menschen zu verbessern. Er ist aber auch eine Kraft, die unnachgiebig Brüche und Risse verursacht, die nicht immer für alle gut sind. Diese Kraft zu bändigen – und sei es teilweise sogar auf Kosten der wirtschaftlichen Effizienz – bleibt der beste Weg für die Zukunft.
  • Technischer Fortschritt ist die Grundlage dafür, dass der Lebensstandards weltweit steigt – doch Innovation bringt immer auch Zerstörung mit sich. Die den Menschen eigene Erfindungsgabe darf nicht eingeschränkt werden. Doch genauso wenig dürfen diejenigen übersehen werden, für die Innovationen negative Folgen haben.
  • Bildung führt zu wirtschaftlicher und persönlicher Weiterentwicklung. Da die Kosten für Bildung jedoch steigen, ist zunehmend der finanzielle Status entscheidend dafür, wer in den Genuss von Bildung kommt und wer nicht. Dadurch verfestigen sich Klassenunterschiede und Chancen-ungleichheit. Doch Bildung hat auch positive externe Effekte – wer sie hat, profitiert davon, wenn auch andere sie erwerben. Daher profitieren alle, wenn der Zugang zu Bildung erleichtert wird.
  • Zuwanderung ist nicht erst angesichts der aktuellen Weltlage ein besonders wichtiges Thema. Auch für die Zuwanderungsländer ist sie sinnvoll. Sie wirkt der Alterung der Bevölkerung entgegen und lindert so die Probleme des demografischen Wandels. Zudem fördert sie Pluralismus und Offenheit und verlangt uns ab, Unterschiede zu respektieren und wertzuschätzen. Daher stärkt Zuwanderung die gesellschaftliche und wirtschaftliche Vitalität. In Verbindung mit Ungleichheit, stagnierenden Lebensstandards für die Mittelschicht und Sicherheitsbedenken kann Zuwanderung aber auch Ängste verursachen. Eine unbegrenzte Zuwanderung ist nicht machbar. Doch Mauern zu errichten ist für alle Seiten schädlich. Bessere Lösungen lassen sich nur im konstruktiven Dialog finden.
  • Freier Handel ist für alle Seiten vorteilhaft. Die Summe aller Teile ist positiv, nicht null. Doch ähnlich wie beim Kapitalismus oder einem hohes Innovationstempo kann freier Handel Arbeitsplätze zerstören und Gemeinschaften wirtschaftlichen Risiken aussetzen. Eine nachhaltige Freihandelspolitik muss daher Wege finden, wie der Nutzen gerechter verteilt werden kann, um Chancen für jene zu schaffen, denen der freie Handel schaden könnte.
  • Bei allen Errungenschaften der modernen Welt, höheren Lebensstandards und dem Zugang zu einer beispiellosen Masse an Informationen – Fehlwahrnehmungen liegen trotzdem in der Natur des Menschen. Daher sollte der Mensch immer im Mittelpunkt stehen. Die bereichernden Unterschiede des Gegenübers kann nur erkennen, wer sich auf andere Menschen einlässt und ihnen zuhört.

"Kurzum: Sollen Ursachen für Spaltungen konstruktiv angegangen werden, müssen wir uns alle bemühen, Klischees abzustreifen, um die Diskussion wieder auf Basis von Fakten zu führen und zu vorurteilsfreien Schlüssen zu kommen", weiss Hatheway. Wir müssten uns klarmachen, dass viele der Herausforderungen, vor denen wir stehen, nur gemeinsam bewältigt werden könnten. Öffentliche Güter wie der Schutz durch Polizei und Feuerwehr oder die nationale Sicherheit, aber auch die Erhaltung des globalen Ökosystems erforderten unbedingt gegenseitige Einigkeit und Zusammenarbeit.

Während Hatheway diese Zeilen schrieb, herrschte an den Finanzmärkten Optimismus. Die Aktienindizes kletterten auf neue Höchststände und die Anleiherenditen stiegen in Erwartung eines erstarkten Wachstums. Hatheway zufolge ist der Optimismus der Anleger nicht unberechtigt. Steuersenkungen, höhere Staatsausgaben und eine stärkere Deregulierung, für die sich der künftige US-Präsident Trump ausspricht, dürften das Wachstum in den USA und weltweit stützen. Die Volkswirtschaften in Nordamerika, Grossbritannien, Nordeuropa, Japan und China hätten sich als widerstandsfähig erwiesen. Auch die Volkswirtschaften der europäischen Peripherie legten wieder zu. Die Rezession in Russland und Brasilien scheine sich dem Ende zu nähern. Die Rohstoffpreise hätten sich stabilisiert, was wiederum vielen Schwellenländern helfe.

Hatheway ist der Meinung, dass mehr Kapitalismus allein nicht genügen werde – dauerhafter Wohlstand setze auch gesellschaftlichen Zusammenhalt und Chancen für alle voraus. Und er müsse mit dem Schutz der Umwelt vereinbar sein.

"Die Aussicht auf eine kurzfristige Verbesserung kann an den Märkten zwar zu Gewinnen führen – doch als langfristig orientierter Anleger bin ich gespannt, ob im Jahr 2017 ein gemeinsames Verständnis entwickelt werden kann, das uns Grund für dauerhaften Optimismus gibt. Und Empathie ist die Grundvoraussetzung für Verständnis ... und daher mein einziger Wunsch für das nächste Jahr", so Hatheway.

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