23.12.2024, 08:37 Uhr
Der Spezialkunststoff-Hersteller Gurit will sich künftig ganz auf profitablere Regionen und Geschäftsbereiche konzentrieren. Im Zuge der angekündigten Restrukturierung sollen Werke in Dänemark, Indien und der...
Olivier de Berranger, CIO bei La Financière de l'Échiquier, spricht im Interview über die Politik der Zentralbanken im Spannungsfeld von Inflation und Rezession, über die Bruchstellen in der Globalisierung und warum die unterbrochenen Lieferketten zu einer nachhaltigeren Entwicklung führen.
Wie konnte es dazu kommen, dass der Fed und der EZB bereits vor dem Ukraine-Krieg die Inflation dermassen aus dem Ruder gelaufen ist?
Olivier de Berranger: Keine Zentralbank und kein Ökonom haben die Geschwindigkeit und Stärke der globalen wirtschaftlichen Erholung im Jahr 2021 vorhergesagt. Vermeintlich vorübergehende Engpässe und Versorgungsunterbrechungen scheinen quasi dauerhaft zu sein. Der Ukraine-Krieg erhöht den Druck auf die Rohstoff- und Energiepreise. Die Fed muss energisch handeln, um die Lohn-Inflations-Spirale zu stoppen, bevor sie völlig ausser Kontrolle gerät. Die EZB befindet sich in einer anderen Situation, da sie sich einer importierten Inflation stellen muss, die zusätzlich durch den schwächeren Euro gegenüber dem Dollar verstärkt wird. Im Gegensatz dazu ist die Inflation in den USA hausgemacht und daher leichter zu bekämpfen.
Nun geht mit dem Krieg auch eine Energiekrise mit einer Preisexplosion bei den fossilen Brennstoffen einher. Wie schätzen Sie die wirtschaftlichen Konsequenzen für Europa ein und wann und unter welchen Bedingungen können wir mit einer Normalisierung rechnen?
Die Normalisierung ist für Europa weit entfernt. Neue Lieferanten, speziell für Gas, können nicht in Monaten oder auch Quartalen gefunden werden. Wenn die Gasimporte aus Russland gestoppt würden, wäre Deutschland sehr schnell in einer Rezession. Die Wachstumsannahme der EZB für die Eurozone von 3,7% ist viel zu optimistisch. 2022 dürfte maximal im Bereich von 2 bis 2,5% landen.
Sowohl die Fed als auch die EZB straffen die Geldpolitik. Inwiefern ist die heutige Situation mit jener von 1986–1987 zu vergleichen, als die geldpolitische Straffung der Fed im Oktober zum Crash führte und an dem berühmten "schwarzen Montag" die Indizes in nur wenigen Tagen um fast 30% einbrachen?
Seit dem Schwarzen Montag im Oktober 1987 wissen die Zentralbanken, dass sie, um einen Aktiencrash abzuwenden, ausreichend Liquidität und niedrigere Zinsen bereitstellen sollten. Genau das haben sie während der LTCM- und Schwellenländerkrise Ende der 90er Jahre und nach dem Lehman-Scheitern 2008 getan. Heute ist die Situation ganz anders, denn es wurden viele Instrumente erfunden, die den Zentralbanken helfen. In Europa zum Beispiel habe ich keinen Zweifel, dass die EZB im Falle einer ernsthaften Ausweitung der Spreads italienischer Staatsanleihen aktiv wird, um die Marktfragmentierung zu verringern. Das könnte einen Aktiencrash dämpfen, aber kaum verhindern. Der Gegenwind für die Weltwirtschaft und die Märkte – Inflation, Shutdowns in China, der Krieg in der Ukraine – ist ziemlich stark und wird nicht über Nacht verschwinden.
Wie stark wird die Fed die Zinsen noch in diesem Jahr anheben müssen, um die Inflation in den Griff zu bekommen?
Die Leitzinsen der Fed sollten bis zum Jahresende zwischen 2,5% und 3,0% liegen, verglichen mit derzeit 1%. Das bedeutet weitere drei bis vier Zinserhöhungen in diesem Jahr.
Was muss die Fed darüber hinaus unternehmen, damit einerseits das Wirtschaftswachstum nicht abgewürgt wird und andererseits die Finanzmärkte nicht zusammenbrechen?
Ich denke, dass die Fed mit der aktuellen Marktkorrektur nicht unzufrieden ist. Der S&P 500 ist um etwa 12% gefallen, der Nasdaq um etwa 20%. Das sollte neue Blasen und zu viel Spekulation verhindern. Das Wachstum wird in Gefahr sein, wenn die Fed auf Inflationszahlen überreagiert, die immer noch sehr hässlich sind, sich aber im weiteren Jahresverlauf zumindest etwas beruhigen sollten.
Welche Schritte erwarten Sie in dieser Hinsicht von der EZB? Wird sie gezwungen sein, schneller als angekündigt zu handeln?
Negativzinsen sind ein Unsinn, insbesondere, wenn die Inflation hoch ist. Die EZB wird in diesem Jahr mit der Normalisierung beginnen, wie sie kürzlich angekündigt hat. Wahrscheinlich im dritten und vierten Quartal.
Wie kann die EU eine Rezession abwenden?
Die Energiepolitik mit Russland wird den Wachstumspfad in der Eurozone diktieren: Wenn die Gasversorgung unterbrochen wird, wird Europa in eine Rezession fallen. Das ist ein Grund oder Szenario, warum die EZB viel vorsichtiger vorgehen wird als die Fed.
Der Ukraine-Krieg hat viele Bruchstellen in der Globalisierung aufgedeckt. Wie wird die Weltordnung nach dem Krieg und in der längerfristigen Zukunft aussehen?
Seit dem Zweiten Weltkrieg und insbesondere seit dem Fall des Eisernen Vorhangs in Europa jagt die Weltwirtschaft nach Kosten- und Versorgungsoptimierung in jedem einzelnen Teil des Produktionsprozesses. Dies muss überprüft werden, um die Lieferkette zu sichern und die Lieferantenquellen zu diversifizieren. In gewisser Weise werden wir von einer Optimierungswelt zu einer Welt gelangen, in der Redundanz, Sicherheit und Backup die Norm sein sollten. Diese Veränderung ist nicht kostenlos. Sie erhöht die Kosten zugunsten von mehr Sicherheit und Berechenbarkeit, was am Ende ein wichtiger Vorteil für die Wirtschaft und die Investitionsmärkte sein könnte.
Die aktuelle Krise öffnet uns die Augen dafür, wie komplex die Lieferketten der Unternehmen geworden sind und wie erschreckend gross der Mangel an Kontrolle in diesem Bereich ist. Wo kann hier Impact Investing ansetzen?
Einer der wichtigsten Aspekte unseres ESG-Analyserahmens ist die Beziehung zwischen den Unternehmen und ihren Lieferanten und Stakeholdern. Impact Investing spielt eine Schlüsselrolle für den Energiewendeprozess, insbesondere in Europa. Wie ich bereits sagte, sind die unterbrochenen Lieferketten ein "Augenöffner», die Reorganisation und das Backsourcing von unternehmerischen Tätigkeiten führen zu einer nachhaltigeren Entwicklung.
Wie kann der Störanfälligkeit der Lieferketten begegnet werden?
Wenn wir in eine Welt wechseln, in der "just in time" – keine Produkte auf Lager und überall optimiert –, durch "just in stock" – die Fähigkeit zu produzieren und zu verkaufen –, ersetzt wird, wird die Art und Weise, wie Unternehmen ihre Lieferkette aufbauen und sichern, der Schlüssel sein. Immer mehr Unternehmen handeln so. Das gibt uns die Zuversicht, dass der Übergang gelingen wird.
Was kann und muss der Finanzsektor Ihrer Meinung nach zu den globalen Nachhaltigkeitszielen beitragen?
Aktive Asset Manager müssen institutionelles Kapital und Vermögen von Privatkunden in Unternehmen lenken, die zu ESG beitragen – konkret zu den von den Vereinten Nationen definierten Zielen für nachhaltige Entwicklung, SDG. Ein solider interner ESG-Ansatz ist von entscheidender Bedeutung, da die europäischen Vorschriften von Land zu Land viel zu unterschiedlich sind.
(Die geäusserten Meinungen entsprechen den Markterwartungen von LFDE zum Zeitpunkt der Veröffentlichung. Sie können sich je nach Marktbedingungen ändern und LFDE kann in keiner Weise zur Verantwortung gezogen werden.)