Das Produktivitätsrätsel

Valentijn van Nieuwenhuijzen, Head of Multi Asset
Valentijn van Nieuwenhuijzen, Head of Multi Asset

Die zunehmenden Hinweise auf einen rückläufigen Trend beim Produktivitätswachstum in den entwickelten Volkswirtschaften werden derzeit kontrovers diskutiert. Valentijn van Nieuwenhuijzen erläutert die Hintergründe.

11.05.2015, 08:31 Uhr

Redaktion: kgh

Kurz gesagt führt ein geringeres Produktivitätswachstum zu geringerem Wirtschaftswachstum, höheren Solvabilitätsrisiken bei Leistungsträgern (soziale Sicherheit, Kranken- und Rentenversicherungen), weniger Potenzial für Ertragszuwächse, einem höheren Risiko anhaltender Stagnation, niedrigeren Zinsen (für noch längere Dauer) und weniger Spielraum für eine weitere Reduzierung der Risikoprämien an den Finanzmärkten. Damit wirkt sich schwaches Produktivitätswachstum mittelfristig direkt auf Investoren aus: durch weniger Investmentgelegenheiten, geringere Ertragsaussichten und höhere systemische Risiken. Also wirklich nichts, worüber man sich freuen könnte.

Dabei dürfen Investoren allerdings nicht vergessen, dass all dies auf der Annahme eines strukturell niedrigeren Produktivitätswachstums beruht und es sich dabei eben nur um eine Annahme und keine felsenfeste Tatsache handelt. Zudem entspricht dieses Szenario nicht unbedingt den Erfahrungen der Vergangenheit oder auch den aktuell beobachteten technischen Entwicklungen in vielen Bereichen der Wirtschaft. In der Vergangenheit verliefen die Zyklen des Produktivitätswachstums in grösseren Intervallen von mitunter längerer Dauer. Insgesamt zeichnen sie sich jedoch eher durch Unberechenbarkeit aus und lassen sich nicht so ohne Weiteres als klare Trend- oder Richtungswechsel – im Sinne struktureller Zu- oder Abnahmen – identifizieren.

Schaut man sich beispielsweise die Entwicklung des Produktivitätswachstums in den USA an, so ist klar zu erkennen, dass der Trend in den vergangenen zehn Jahren deutlich rückläufig war (siehe vorstehende Grafik). Andererseits ist der Trend weniger dramatisch, als es mitunter dargestellt wird: Die Zuwachsrate liegt im Schnitt immer noch bei 1,5 Prozent pro Jahr. Zum Vergleich:

In den vergangenen 55 Jahren betrug diese Rate 2,0 Prozent. Zudem folgte die gegenwärtige Zyklusphase auf eine zehnjährige Boom-Periode (von 1995 bis 2005), als die Produktivität jedes Jahr um durchschnittlich 3,1 Prozent zulegte. Insofern könnten die jüngsten Enttäuschungen zum Teil auf eine „Korrektur“ der Vorstösse im letzten Jahrzehnt zurückzuführen sein und damit letztlich eine Rückkehr zum Mittelwert darstellen.

Die Entwicklung des Produktivitätsniveaus spricht in gewisser Weise für eine solche Bewertung. Nach einer Phase enttäuschender Zuwachszahlen in den 1980er Jahren sowie Anfang der 1990er Jahre kletterten die Produktivitätsniveaus im Zuge des IT-Booms in den ersten Jahren des neuen Jahrtausends auf ein Niveau über der Trendrate. In der Folge verharrte die Zuwachsrate bis zur globalen Finanzkrise auf recht hohem Niveau. Im Zuge der Kostensenkungsmassnahmen im Anschluss an die Finanzkrise legte die Rate dann nochmals ordentlich zu. Erst ab 2010 zeichnete sich eindeutig Stagnation ab, doch das ist im Rahmen der längerfristigen Produktivitätsdynamiken durchaus nicht ungewöhnlich. Diese Art von Entwicklung ist vor dem Hintergrund des Globalisierungstrends und der digitalen Revolution der 1990er Jahre sowie der Folgen der Finanzkrise im vergangenen Jahrzehnt durchaus nachvollziehbar.

Insofern legen die historischen Muster nahe, dass eine Richtungsumkehr zum (sehr langfristigen) Mittel wohl der am wenigsten verzerrte Ausgangspunkt für eine Prognostizierung der mittelfristigen Produktivitätstrends ist. Vielleicht kommt es diesmal anders, was die Produktivität angeht, doch für jedes Beispiel mangelnder Investitionsbereitschaft im Unternehmenssektor oder Mangel an neuen wegweisenden Technologien gibt es mindestens ebenso viele Beispiele für neue „digitale“ Geschäftsmodelle bzw. Innovationen im Gesundheitssektor oder im (alternativen) Energiebereich.

Jeden Tag erleben wir in unserem persönlichen und beruflichen Umfeld neue Anwendungsbereiche für digitale Kommunikation, intensivere Nutzung von Smartphones, Tablets, Apps, Cloud-Technologie und Big-Data-Lösungen. Hinzu kommen Innovationen in den Bereichen Biotech, Healthcare und alternative Energien, die wiederum das Entstehen neuer Chancen und Gelegenheiten beschleunigen. Gleichzeitig sinken die Kosten überproportional (Stichwort: Batterien und Solarenergie). Nach der Globalisierung der Produktionsketten durch das Outsourcing in den 1990ern sinken dank Digitalisierung nun die Kosten für Transport und Bildung durch vor Ort zugängliche Produktion (3D-Drucker) sowie herunterladbare Berichte, Publikationen, Training-Videos und Live-Datenfeeds. Heute besitzen mehr Menschen ein Handy mit Internetzugang als eine Zahnbürste

Die damit verbundene Vernetzung von Ideen stellt im Prinzip eine beispiellose Quelle geistiger Innovation dar, die über die nächsten zehn Jahre einen neuen Produktivitätsboom antreiben könnte.

Es ist nicht auszuschliessen, dass sich diese bunt zusammengewürfelten Beobachtungen als digitale Irrungen erweisen könnten. Unter Umständen handelt es sich dabei auch nur um vereinzelte Beispiele technologischer Innovation, ohne effektiven wirtschaftlichen Nutzen (und dieser ist Voraussetzung für eine Erhöhung der Produktivität). Im Endeffekt sollen diese Betrachtungen dazu beitragen, uns eine gesunde Skepsis gegenüber einer Sichtweise zu bewahren, wonach die enttäuschenden Produktivitätstrends der letzten Jahre zwangsläufig ein Indikator für die künftige Entwicklung sind.

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