Votum für nachhaltiges Wachstum oder höheres wirtschaftliches Risiko? Beim Referendum in Italien steht viel auf dem Spiel

30.11.2016, 15:47 Uhr

Die am 4. Dezember 2016 stattfindende Volksabstimmung über die Reform der italienischen Verfassung entscheidet über den langfristigen Wachstumspfad der italienischen Wirtschaft. Wenn die Italiener mit "Ja" stimmen, können Gesetze zur Arbeitsmarkt-, Renten-und Wirtschaftspolitik auf einfachere Weise beschlossen werden, so dass die ehrgeizige Reformagenda des derzeitigen Premierministers Renzi und der nachfolgenden Regierungen beschleunigt wird. Dies führt zu einer erneuten Ankurbelung des Wachstums aufgrund der Binnennachfrage.Wenn die Italiener mit "Nein" stimmen, bleibt es für die Wirtschaft beim Status quo: stagnierendes Wachstum, zusätzlich negativ beeinflusst durch die langsame Reaktion und Ineffizienz der Regierung, bei hoher Arbeitslosenrate und Staatsverschuldung, die populistische Argumente geradezu einladen. Die euroskeptische Haltung der politischen Führung würde zu einer Bedrohung des Projekts Europa führen, und für Anti-Establishment-Parteien böten sich Chancen für die Bildung einer neuen Regierung.

In diesem Beitrag stellen wir die möglichen politischen und damit ökonomischen Auswirkungen dar und erläutern aus strategischer und taktischer Perspektive, welche Möglichkeiten sich Investoren vor und nach dem Referendum für eine Positionierung in wichtigen Anlageklassen bieten.

Zahlreiche Unsicherheitsfaktoren in Umfragen befeuern weitere Spekulationen
In jüngsten Umfragen und Wettquoten war ein zunehmender Trend in Richtung eines "Nein"-Votums erkennbar. Sowohl beim Referendum für den Austritt Grossbritanniens aus der EU als auch beim überraschenden Wahlausgang in den USA erwiesen sich die Umfragen jedoch als unzuverlässig und anfällig für gegenteilige Ergebnisse. Dies könnte auch bei der Volksabstimmung in Italien der Fall sein – massgeblich hierfür sind folgende Punkte:

  • uneinheitliche Ergebnisse früherer Regierungen, die in der Vergangenheit Verfassungsreformen in das Parlament eingebracht oder Volksabstimmungen ausgerufen haben
  • ein noch immer unentschiedener großer Wählerblock, der das Ergebnis in die eine oder andere Richtung beeinflussen könnte
  • Wahlbeteiligung und regionale Präferenzen: In der Vergangenheit verzeichneten die nördlichen Regionen Italiens eine hohe Wahlbeteiligung, und hier ist auch ein "Ja"-Votum am wahrscheinlichsten. Im südlichen Teil des Landes ist die Wahlbeteiligung dagegen traditionell gering und ein "Nein" wahrscheinlicher. Zudem leben Millionenwahlberechtigte Italiener im Ausland. Ein grosser Teil dürfte Veränderungen gegenüber aufgeschlossen sein, wird jedoch in den Umfragen derzeit nicht erfasst.

„Ja“: nachhaltiges Wachstum und niedrigere Staatsverschuldung
Mit der Übertragung des grössten Teils der gesetzgeberischen Befugnisse an die Abgeordnetenkammer würde es zu einer Wiederbelebung der konjunkturellen Erholung kommen, da Gesetzentwürfe zu Reformen in wichtigen Bereichen wie dem Staatshaushalt, den Infrastrukturausgaben, dem Steuerrecht, dem Rentensystem und –ganz entscheidend –dem Arbeitsmarkt schneller verabschiedet werden dürften.

Derzeit gehen die Reformen nicht weit genug, um einen wirklichen Wandel auszulösen. Beispiel hierfür ist die unter dem Namen „Jobs Act“ bekannt gewordene, im Jahr 2015 in Kraft getretene Arbeitsmarktreform von Premier Renzi zur Lockerung des Kündigungsschutzesin Großunternehmen und Gewährung von vorübergehenden Steuersenkungen für Unternehmen, die Arbeitnehmer unbefristet einstellen. Da sich die Reform jedoch ausschließlich auf neu eingestellte Mitarbeiter bezieht, bleibt ein Großteil der Arbeitnehmer hiervon unberührt, darunter die bereits in Beschäftigungsverhältnissen befindlichen Arbeitnehmer in der Privatwirtschaft und die 3,5 Millionen Angestellten des öffentlichen Sektors. Damit dürften diese Reformen erst in einigen Jahren zu einer nennenswerten Reduzierung der Arbeitslosenrate führen –Zeit, die die italienischen Politiker eigentlich nicht haben, wenn sie das Land im Euro-Raum halten wollen.

Das über Italien als Teil des Euro-Raumes schwebende Damoklesschwert besteht in der hohen Staatsverschuldung. Trotz der in Italien umgesetzten harten Sparmaßnahmen und der im Primärhaushalt erzieltenÜberschüsse überstieg die Schuldenlast bisher die im Etat verfügbaren Mittel. Wie in Grafik 1 dargestellt, hat die Regierung im vergangenen Fünfjahreszeitraum nahezu 2% des BIP pro Jahr eingespart: Bei einer weiter gefassten Betrachtung dieser aggressiven Sparpolitik wird deutlich, dass laut prozentualem Anteil der Primärhaushalte des Jahres 2015 am BIP Italien (1,6%) ebenso wie Deutschland (2,3%) und Österreich (1,4%) zu den „Sparmeistern“des Euro-Raumes gehörte. Diese Anstrengungen waren jedoch bei weitem nicht ausreichend, um die Staatsverschuldung zu senken. Angesichts des Zins-und Kapitaldienstes in Höhe von mehr als 4% des BIP pro Jahr müsstedasBIP in Italiennominal künftig um deutlich mehr als 2%wachsen, um über die Neuverschuldung hinauszugehen. Dies gilt unter der Annahme gleich bleibender Einsparungen durch den Staat. Die derzeitige Staatsverschuldung von weiterhin über 2,2 Billionen Euro (entsprechend 133% des BIP) bleibt so lange die Achillesferse Italiens und des Euro-Raumes, bis es zu einer Beschleunigung des Wachstums kommt und Italien daraus in einer ebenso starken Position hervorgeht wie seine europäischen Nachbarn (siehe Grafik 2).

Von der Verfassungsänderung geht zunehmender Druck aus, da Italien angesichts der fehlenden Hebel für eine Umkehr des Prozesses inzwischen anfällig für externe Schocks geworden ist, die sich seiner eigenen Kontrolle entziehen. Dies gilt beispielsweise für den kürzlichen Wahlsieg von Donald Trump in den USA, in dessen Folge die Renditen lang laufender italienischer Anleihen trotz der quantitativen Lockerung durch die EZB im November einen Höchstwert erreichten. Dadurch kommt es zu einer Verteuerung der künftigen Refinanzierung von Schulden.Doch damit nicht genug der Widrigkeiten: Zudem wurde das Land im August und Oktober dieses Jahres von Erdbeben heimgesucht. Neben der Flüchtlingskrise –die EU ist nicht in derLage, die Ankunft TausenderFlüchtlinge an der italienischen Küste zu verhindern –haben diese Naturkatastrophen den Staatshaushalt in einem Ausmaß belastet, das die Renzi-Regierung zu einer Kehrtwende bei den Defizitzielen bewog.

Angesichts des für Renzi spürbaren innenpolitischenDrucks, Ergebnisse für die Wirtschaft zu liefern, übt der italienische Premier auch zunehmenden Druck auf die EU aus, sich von ihrer restriktiven Fiskalpolitik abzuwenden. So sieht der letzte von ihm im Oktober vorgelegte Haushaltsentwurf eine Erhöhung der Defizitquote von 1,8% auf 2,3% vor, um dem Aufkommen populistischer Strömungen im eigenen Land einen Riegel vorzuschieben. Durch sein populistischeres Verhalten sowohl auf innen-als auch auf außenpolitischer Ebene benutzt Renzi seinen Staatshaushalt als kaum verhüllte Drohung in Richtung der EU, die unter Beschuss geraten könnte, wenn sich die euroskeptische italienische Fünf-Sterne-Bewegung als politische Partei eigenständig oder als Teil einer neuen Regierung formiert. Auch in Ländern wie Frankreich,den Niederlanden und Deutschland könnten bisher eher am politischen Rand zu verortende Parteien davon profitieren –durch eine gegenüber den etablierten Parteien höhere Dynamikder Entwicklung. In allen drei Ländern finden im kommenden Jahr Parlamentswahlen statt.

„Nein“: Status quo erhöht politische und wirtschaftliche Risiken
Angesichts der zunehmenden Enttäuschung der Wähler über den europäischen Fiskalpakt erscheint es unrealistisch –sowohl politisch als auch ökonomisch –, dass Italien seine Austeritätspolitik im Vergleich zur derzeitigen Situation noch einmal verschärft. In diesem Zusammenhang ist das Referendum möglicherweise die letzte Chance für das Land, strukturelle Veränderungen durchzusetzen. Eine Ablehnung der Reform würde künftige Regierungen über Jahre hinweg vor ähnlichen Vorhaben zurückschrecken und Italien auf einen anderen Weg einschwenken lassen, der höchstwahrscheinlich mit einer deutlichen Erhöhung des Haushaltsdefizits verbunden wäre. Da sich Renzi bereits jetzt von einer restriktiveren Haushaltspolitik verabschiedet, stellt dies einen Präzedenzfall für die nach ihm folgenden Staatschefs dar, die dann zunehmend auf staatliche Konjunkturprogramme setzen dürften.

Zusätzlich besteht bei einem "Nein"-Votum die großeUnsicherheit eines möglichen Machtvakuums im Falle von Renzis Rücktritt und der Ausrufung von Neuwahlen. Dadurch würde sich für euroskeptische Parteien wie die Fünf-Sterne-Bewegung und die Lega Nord eine echte Chance auf einen Führungsanspruch oder eine Beteiligung an einer neuen Regierungskoalition eröffnen. Insbesondere unter der Führung des Parteigründers Beppe Grillo würden sich die „Fünf Sterne“ höchstwahrscheinlich für eine Volksabstimmung über den Euro aussprechen.

Sollte nach einem "Nein" eine populistische Partei die Kontrolle übernehmen, so könnte dies unmittelbar deutlich negative Auswirkungen auf die Finanzmärkte mit sich bringen. Der Euro geriete dann voraussichtlich unter anhaltenden Verkaufsdruck, da spekulative Anleger auf die Beendigung der Zugehörigkeit Italiens zum Euro-Raum und zur Währungsunion selbst setzen. Dann könnte es zu einer Wiedereinführung der Lira, einer höheren Inflation und über ein wachsendes Haushaltsdefizit finanzierten Ausgaben kommen. Die Renditen lang laufender italienischer Staatsanleihen könnten erneut steigen, mit der Folge einer wachsenden Kluft zwischen Italien und anderen hochverschuldeten Ländern wie Portugal, Belgien und Spanien auf der einen und dem wirtschaftlich gesünderen Kern der EU um Deutschland auf der anderen Seite. Im Epizentrum dieser Entwicklung befinden sich die italienischen Banken, die in ihren Bilanzen –vorwiegend italienische –Staatsanleihen im Wert von EUR445Mrd. halten und damit die größten systemischen Risiken für den Euro-Raum darstellen.Banken: erneutes Entstehen systemischer Risiken im BankensektorSeit dem Jahr 2016 müssen die EU-Mitgliedsstaaten, darunter Italien, die EU-Vorschriften einhalten, wonach in einer schwierigen wirtschaftlichen Lage befindliche Banken keine staatlichen Beihilfen mehr erhalten –es sei denn, in Bezug auf Eigenkapital und nachrangige Schulden werden zunächst die Gläubiger selbst in die Verantwortung genommen („Bail-in“), um den letztlich vom Steuerzahler zu übernehmenden Betrag zu reduzieren. Die Anwendung dieses Grundsatzes „Kein Bail-out ohne Bail-in“ auf die Bankenrettung auf EU-Ebene führte dazu, dass die in diesem Jahr für vier regionale Kreditinstitute umgesetzten Bail-in-Maßnahmen mit hohen Kosten für Tausende Sparer verbunden waren, die bei diesen Banken nicht nur Konten unterhielten, sondern in der Regel auch in ihre Anleihen investiert waren. Haushalte und Privatanleger halten in Italien Bankanleihen im Wert von geschätzt EUR200 Mrd. Diese Situation stellt ein großes Hindernis für die Maßnahmen der italienischen Regierung zur Bankenrestrukturierung dar. Künftig wird man noch viel höhere potenzielle Verluste für Haushalte und Einzelpersonen vermeiden müssen. Die Maßnahmen zur Rekapitalisierung von Banken unter Rückgriff auf Mittel von Privatinvestoren, außerbilanzielle Strukturen, Kostensenkungen und Konsolidierung waren für eine Wiederherstellung des Vertrauens bisher unzureichend. Angesichts der für Premier Renzi derzeit bestehenden Herausforderungen und seiner drastisch sinkendenPopularität werden sich künftige italienische Regierungschefs wohl auf staatliche Stützungsmaßnahmen als einziges Mittel für die Sicherung ihres politischen Überlebens konzentrieren.

Die Reaktion der EU auf ein „Nein“-Votum: Aufweichung der Fiskalpolitik, Lockerung der Bail-in-Regeln, Ausweitung der quantitativen LockerungGenau aus diesen Gründen wird die EU im Interesse der Aufrechterhaltung der politischen Stabilitätvoraussichtlich den von Renzi vorgelegtenHaushalt genehmigen und dem künftigen Regierungschef –wer immer dies auch sein mag –weitere Konjunkturmaßnahmen ermöglichen. Auch aus Frankreich kommen Signale der Unterstützung, da sich das Land ebenfalls einer Flüchtlingskrise gegenübersieht, die für Präsident Hollande zunehmend zu einer politischen Herausforderung wird. Die aus Deutschland und einigen nordeuropäischen Ländernzu vernehmenden scharfen Töne im Hinblick auf eine restriktive Fiskalpolitik dürften sich in naher Zukunft im Zuge der Erhöhung des Drucks seitens der populistischen Linken im eigenen Land und der politischen Union in Europa als Ganzes mäßigen.Ein „Nein“-Votum könnte die EU möglicherweise veranlassen, Maßnahmen zur Eindämmung neu entstehender systemischer Risiken zu ergreifen. Bei einem Rücktritt Renzis käme es zu politischen Unruhen, einem rasanten Anstieg der Anleiherenditen und wachsendem Druck auf den Euro. Es gibt Grund zu der Annahme, dass die EU unter Führung von Deutschland –wenn nicht aus wirtschaftlichen Gründen, dann doch aus Selbstschutz –bei ihrer entschiedenenHaltung zur Restrukturierung des italienischen Bankensektors bleibenund eine Lockerung des Bail-in-Regimes (d.h. höhere staatliche Beihilfen) unterstützen wird, um die Rekapitalisierung der wirtschaftlich schwächsten Banken schneller voranzutreiben. Wenn nicht in größerem Umfang Steuergelder zur Unterstützung der Bankenrekapitalisierung eingesetzt werden, könnte das Vertrauen der Banken untereinander und der Anleger in die Banken erneut Schaden nehmen. Sollte dies zu einem erneuten Einfrieren der Interbankenmärkte führen, so könnte die gesamte italienische Wirtschaft ins Stocken geraten. Die damit verbundenen Kosten wären sowohl für Italien als auch für die Europäische Union enorm.Auch die EZB wird diese Situation nicht nur aus einer Zuschauerrolle heraus betrachten wollen, da sie ohne die Banken über kein Mandat verfügt. Die EZB betreibt über die Ausweitung und Verlängerung der monatlichen Anleihekäufe eine expansive quantitative Lockerung und wird hierbei den Versuch unternehmen, die steigenden Renditen auf Staatsanleihen zu begrenzen und die Anleihekäufe bei Bedarf möglicherweise eher auf italienische Papiere auszurichten. Im Zuge dieser Entwicklung würden auch die Liquiditätskanäle weit geöffnet, um das Funktionieren der Geldmärkte und des Interbanken-Kreditgeschäfts zu sichern und keine Großbank „außen vor“ zu lassen

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