Verzerrung an europäischen Anleihenmärkten

20.04.2010, 11:50 Uhr

In weiten Teilen der EUR-Staatsanleihenmärkte herrschte in den ersten Monaten dieses Jahres Ausnahmezustand. Auslöser war die Furcht vor einer Staatspleite in Griechenland. Mit dem kürzlich beschlossenen Hilfspaket der EU hat sich die Lage wieder etwas beruhigt. Dr. Harald Preissler, Chefökonom von Bantleon, spricht im Interview über die aktuelle Situation und Aussichten.




Dr. Harald Preissler,
Chefökonom von Bantleon

Herr Dr. Preissler, wie ist die aktuelle Lage an den Anleihenmärkten?

Dr. Harald Preissler: Mit Blick auf unsere mittelfristige Anleihenmarkteinschätzung für die kommenden 12 Monate bildet wie immer die makroökonomische Analyse des "Fair Values" lang laufender EUR-Staatsanleihen den Startpunkt. Dabei hat sich an unserer Einschätzung der strukturellen Triebkräfte nichts verändert. Wir sehen das reale Wachstumspotenzial der Eurozone bei 1,5 % pro Jahr, die Inflationserwartungen werden sich um die 2,0 %-Marke bewegen. Das nominelle Wirtschaftswachstum beläuft sich somit auf 3,5 % – um diesen Wert sollten in der längeren Frist auch die Renditen lang laufender Anleihen pendeln. Die Anleihenrenditen neigen dazu, in Phasen konjunktureller Stärke über ihren "Fair Value" hinauszuschiessen; in Zeiten nachlassender Wachstumsdynamik hingegen sinken die Renditen wieder auf beziehungsweise unter ihren Referenzwert. Deshalb müssten die Renditen derzeit eigentlich 50 bis 100 Basispunkte über der 3,50 %-Marke liegen. Dennoch rentieren 10-jährige Bundesanleihen aktuell nur bei 3,15 %, fast 100 Basispunkte unter ihrem Sollwert. Das unterscheidet den EUR-Anleihenmarkt derzeit von seinem amerikanischen Pendant, denn 10-jährige US-Treasuries rentierten Anfang April exakt auf unserer Fair-Value-Prognose von 4,00 %.

Wie erklären Sie diese Abweichungen?

Für die Verzerrungen in der Eurozone gibt es im Wesentlichen zwei Gründe: Erstens die ultraexpansive Geldpolitik der EZB, die dem Bankensystem noch bis Anfang April unbegrenzt Mittel zur Verfügung gestellt hat. Zweitens spielen natürlich die Safe-Haven-Flows eine wichtige Rolle, die seit dem Spätherbst im Zuge der aufkeimenden Griechenlandkrise in die Staatsanleihenmärkte der Kernländer strömten. Beiden Effekten lassen sich unseren Schätzungen zufolge jeweils etwa 50 Basispunkte zuordnen, woraus sich eine Überbewertung von 100 Basispunkten errechnet.

Wird sich diese Verzerrung in den nächsten Monaten auflösen und Bundesanleihen einen drastischen Ausverkauf bescheren?

Mit einem Ausverkauf rechnen wir nicht. Steigende Renditen hingegen sind überfällig. Denn die Liquiditätsschwemme am Geldmarkt sollte mit dem von der EZB vorangetriebenen Ausstieg aus der lockeren Geldpolitik bald auslaufen. Insgesamt dürften deutsche Bundesanleihen in den nächsten Wochen spürbar unter Druck geraten. Während wir bislang davon ausgegangen sind, dass die Renditen 10-jähriger Bundesanleihen ihren "Fair Value" hinter sich lassen und noch einmal 3,75 % erreichen werden – das bisherige zyklische Hoch von Anfang Juni 2009 – sind wir jetzt zurückhaltender. Wir erwarten nur noch einen Angriff auf 3,50 %. In unserem Basisszenario gehen wir darüber hinaus davon aus, dass die Renditen 10-jähriger Bundesanleihen nach ihrem Renditeanstieg im 2. Quartal bis zum Frühjahr 2011 wieder auf 3,00 % zurückfallen werden. Der Grund ist, dass unsere weit vorausblickenden Frühindikatoren für das 3. Quartal 2010 eine spürbare Abschwächung der konjunkturellen Triebkräfte ankündigen. Je nach Ausmass der zyklischen Abkühlung sind dabei aber auch Renditen deutlich unter 3,00 % vorstellbar. Wenn die EZB die Zinsen etwa angesichts der erneuten Wachstumsabschwächung nicht anhebt oder sogar neue Zinssenkungsdiskussionen aufkommen, halten wir Renditen im 10-Jahresbereich von 2,25 % bis 2,50 % für realistisch. Das gleiche gilt, wenn der von uns prognostizierte vorherige Renditeanstieg ausbleibt und die Anleihenmärkte vom aktuellen Niveau aus in die wirtschaftliche Abkühlung starten. Unabhängig davon dürfte sich die Zinskurve in den nächsten Quartalen spürbar verflachen.

Wie sind die Aussichten für Unternehmensanleihen und besicherte Anleihen?

Die Aussichten für Unternehmensanleihen und besicherte Anleihen gestalten sich vor diesem Hintergrund ambivalent. Solange die Geldmarktsätze und Bundesanleihenrenditen auf tiefen Niveaus verharren, wird das gesamte Segment der EUR-Staatsanleihen, Covered Bonds und Unternehmensanleihen sich besser entwickeln als deutsche Bundesanleihen. Erst wenn sich ein nachhaltiger Anstieg der Kapitalmarktrenditen etabliert hat, verlieren Unternehmensanleihen und besicherte Anleihen wegen ihrer höheren Zinssensitivität und der attraktiver werdenden Bundesanleihen an Zuspruch und die Risikoprämien beginnen zu steigen. Deshalb bleibt das Umfeld für Unternehmensanleihen und besicherte Anleihen bis in den Herbst hinein positiv. Mit dem näher rückenden Jahreswechsel nimmt der Druck indes zu und die Spreads beginnen sich leicht auszuweiten. Insgesamt fällt der Ausblick für die Anleihenmärkte in den nächsten drei Monaten durchwachsen aus, während die langfristigen Perspektiven gut sind. (mak)

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