Die unendliche Geschichte – Europas Schuldenkrise

Nach mehreren Wochen der Gerüchte, Dementi und Ungewissheit sei jetzt klar, dass die politisch Verantwortlichen in Europa erneut vorgeführt wurden, sagt Valentijn van Nieuwenhuijzen von ING Investment Management. Europa fehle es an der erforderlichen Transparenz und Koordination für die Lösung der Staatsschuldenkrise.

06.06.2011, 16:39 Uhr

Redaktion: hes

Valentijn van Nieuwenhuijzen, Head of Strategy bei ING Investment Management, vertritt in seiner Juni-Kolumne die Ansicht, dass die „politischen“ Initiativen einiger im Mittelpunkt stehender Akteure in den letzten Wochen wiederum zu einer Meinungsschere geführt haben. In Europa ist der Populismus auf dem Vormarsch und der politische Wille, dem Gemeinwohl Europas Wählerstimmen zu opfern, scheint deutlich nachzulassen.

Ursachen für die Staatskrisen
Es ist wichtig zu erkennen, dass die Staatsschuldenkrise an der Euro-Peripherie nicht nur eine, sondern mehrere Ursachen hat. Doch nicht alle dieser Ursachen fallen (oder fielen) in den Einflussbereich der Regierungen der betreffenden Länder. Das gilt natürlich nicht für die unverantwortliche Haushaltspolitik von Ländern wie Griechenland und Portugal. Vielmehr betrifft dies Auslassungen und Mängel beim Entwurf der Währungsunion (fehlende Regelungen zur fiskalischen Umverteilung), übermässiges Kreditwachstum sowie die daraus folgenden Immobilienmarktblasen.

Im Falle Spaniens und Irlands spielten die letztgenannten Faktoren eine weitaus grössere Rolle als die Führung der öffentlichen Haushalte vor Ausbruch der Schuldenkrise. Hinzu kommt, dass auch Deutschland und Frankreich in fiskalpolitischer Hinsicht nicht mit gutem Beispiel vorangegangen sind. Vielmehr haben diese Länder im Herzen Europas die Stabilitäts- und Wachstumsregelungen seit Einführung des Euro weiten teils ignoriert und sogar für eine Änderung der Vorschriften plädiert, als ihre Regelverstösse zu offensichtlich wurden.

Zudem haben die geldpolitischen Entscheidungsträger bislang nicht signalisiert, dass eine Notwendigkeit bestehe, die Staatsschuldner der Eurozone nach Bonität zu differenzieren. Die EZB hat Banken gegenüber bisher stets dieselben Kreditvergabekriterien angewandt – ganz gleich, ob sie griechische Staatsanleihen oder deutsche Bundesanleihen zur Besicherung ihrer Darlehen anboten. Desgleichen hat die EZB bislang nicht kategorisch vor den Gefahren für die finanzielle Stabilität gewarnt, die eine übermässige Kreditaufnahme durch öffentliche und private Stellen in den Peripherieländern darstellt.

Gemeinsame Verantwortung der politischen Instanzen in Europa
Man kann darüber streiten, inwieweit die politisch Verantwortlichen im Kern oder an der Peripherie der Eurozone daran schuld sind. In einigen Bereichen hätten die Entscheidungsträger es sicherlich besser wissen müssen. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist es allerdings dringlicher, dass die politischen Instanzen in Europa ihre gemeinsame Verantwortung für die bestehenden Probleme schultern. Das hat zumindest drei wesentliche Vorteile:

Erstens würde dies eine akkuratere Diagnose der Ursachen für die Krise ermöglichen. Liegt erst einmal die richtige Diagnose vor, so besteht eine bessere Chance, die Eurozone von ihrem existenzbedrohenden Leiden zu heilen.

Zweitens würde das die Chancen für eine kooperative Lösung zwischen den politischen Entscheidungsträgern in Kern- und Peripherie-Europa erhöhen. Die Übernahme gemeinsamer Verantwortung würde die Bereitschaft aller Beteiligten, die notwendigen Schritte zu ergreifen, als vertrauensfördernde Massnahme enorm stärken. Dann ginge es nicht länger darum, Lösungsvorschläge für die Probleme anderer zu unterbreiten, sondern vielmehr seinen eigenen Teil der Abmachung einzuhalten: einerseits die Übernahme der finanziellen Lasten und andererseits die Umsetzung von Reformen und Sparmassnahmen.

Drittens würde die „Ansteckungsgefahr“ an der Euro-Peripherie erheblich zunehmen, falls bei den Finanzmärkten der Eindruck entstünde, dass die EWU-Mitglieder zu abgestimmtem Handeln ausserstande sind. Die Konsequenzen der Lehman-Pleite in 2008 gemahnen, dass negative Rückkopplungen in andere Teile des Finanzsystems und in die Realwirtschaft für alle Beteiligten zu einem Nullsummenspiel werden, bei dem niemand gewinnt. Die Tatsache, dass solche Risiken bestehen, schafft bereits einen starken Anreiz, ihre Verwirklichung zu verhindern.

Finanzielle Lastenteilung als Erfolgsrezept
Ein Gefühl gemeinsamer Verantwortung verringert die Wahrscheinlichkeit, dass manche Länder als „Trittbrettfahrer“ von der Lösungsbereitschaft anderer profitieren. Zunehmende Spannungen mögen bei den politischen Instanzen in Europa letztendlich zur Erkenntnis führen, dass sie einander brauchen, um das bestmögliche Ergebnis zu erzielen. Das war in den vergangenen Jahren bereits mehrfach der Fall: während der Kreditkrise (auf globaler Ebene) und der Staatsschuldenkrise (auf europäischer Ebene). Im Geiste Europas könnten daher gemeinsame Verantwortung und finanzielle Lastenteilung das Erfolgsrezept sein. Dazu muss allen Beteiligten klar sein, dass sich die politisch Verantwortlichen in ganz Europa dafür ihrer Verantwortung für ein gemeinsames Problem stellen müssen, das nur durch gegenseitige Zusammenarbeit gelöst werden kann.

Die entscheidende Frage lautet: Wird die politische Führung mitspielen? Mit anderen Worten: Werden die Politiker bereit sein, dieser langfristig orientierten Herangehensweise Wählerstimmen zu opfern? Je länger ein konzertierter Ansatz auf die lange Bank geschoben wird, desto geringer sind die Chancen für eine langfristige Lösung. Das Problem wird wahrscheinlich demnächst – in ein paar Monaten, nicht Jahren – wieder fröhliche Urständ feiern. Dann müssen die politischen Entscheidungsträger zum entschlossenen Handeln bereit und fähig sein – andernfalls wird Europa schon bald ein zersplittertes Bild bieten.

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