Aktien versus Staatsanleihen: Gier versus Angst?

03.05.2010, 10:10 Uhr

Zyklische Werte gewinnen weiter an Wert, währendem der europäische Anleihenmarkt zunehmend durch grosse Verunsicherung geprägt wird. Ad van Tiggelen, Senior Investment

Specialist bei ING Investment Management, erläutert in seinem Kommentar die Gründe für die aktuelle Marktsituation und wie man darauf reagieren sollte.



Ad van Tiggelen,
Senior Investment Specialist, Investment Content Management bei ING Investment Management

"Die Stimmung an den

Finanzmärkten wird häufig entweder von Gier oder Angst getrieben. In letzter

Zeit scheinen jedoch beide Emotionen gleichzeitig das Geschehen an den Märkten

zu bestimmen. Dies gilt insbesondere für Europa. Die "Gier" wird sozusagen durch

lebhafte Aktienmärkte verkörpert, an denen konjunkturempfindliche Titel

(sogenannte Zykliker) dramatische Kurszuwächse verzeichnen – offensichtlich

unabhängig von ihrer Bewertung. Symbolisch für die "Angst" sind die europäischen

Anleihemärkte, deren Anleger sich zunehmend um die Situation in Griechenland und

anderen EWU-Staaten sorgen, eine Entwicklung, die ausserordentlich negative

Folgen nach sich ziehen könnte. Was bedeutet das?"

Defensive Werte mit schlechter Performance

"Werfen wir einen Blick

auf die Aktienmärkte. Trotz ihrer kräftigen Erholung seit März 2009 scheinen sie

immer noch angemessen bewertet zu sein, da die Erträge die Erwartungen bei

weitem übertroffen haben. Die Kursanstiege am Aktienmarkt wurden allerdings

weitgehend von Zyklikern und Finanzwerten angetrieben, deren Preise sich seit

ihren Tiefstständen verdoppelt oder sogar verdreifacht haben. Traditionell

defensiv ausgerichtete Sektoren wie Versorger, Telekommunikation und Pharma

hinken dagegen weit abgeschlagen hinterher. Zykliker insgesamt werden daher mit

Bewertungen gehandelt, die nahezu dem höchsten Stand seit dreissig Jahren

gegenüber defensiven Werten entsprechen. Dafür gibt es zwei

Gründe:

  • In Zeiten der wirtschaftlichen Erholung orientieren sich Anleger stärker am Gewinn je Aktie als am Bewertungsniveau der Aktientitel. Positive Ertragsüberraschungen werden mit Begeisterung aufgenommen. Dieser Ansatz begünstigt zyklische Titel, selbst wenn defensive Aktien eine günstigere Bewertung aufweisen.
  • Amerikanische und europäische Zykliker erzielen tendenziell einen wachsenden Anteil ihrer Erträge durch Auslandsumsätze (Emerging Markets!), während Sektoren wie Versorger und Telekommunikation in erster Linie auf den Binnenmarkt fokussieren. Defensive Werte profitieren daher weniger vom enormen Wirtschaftswachstum der Schwellenländer als Zykliker.

Vor allem der

letztgenannte Faktor ist einer der Hauptgründe dafür, dass die Stimmung an den

europäischen Aktienmärkten sich teilweise von der Stimmung an den europäischen

Staatsanleihemärkten entkoppelt hat: Unternehmen können globalisieren,

Regierungen nicht. Einerseits haben

Investoren sich dieses Phänomen zueigen gemacht, indem sie besonders

erfolgreiche internationale Unternehmen für die unerwartet guten Erträge

belohnen. Andererseits mehrt sich ihre Nervosität im Hinblick auf

hochverschuldete Länder."

Trends werden nicht anhalten

"Nach unserem Dafürhalten

werden diese beiden Trends nicht lange friedlich nebeneinander bestehen. Denn

schliesslich neigen Investoren zur Übertreibung, sowohl bei Gier als auch Angst.

Und irgendwann läuft das Fass über. So heben Aktienanleger jetzt ihre

Ertragserwartungen für Zykliker für 2010 und 2011 ständig an, bis schliesslich

ein Niveau erreicht ist, das unmöglich zu erfüllen ist. Hierbei handelt es sich

um ein Ritual, das auch in früheren Zyklen zu beobachten war. Bis dahin straft

die Investorenschaft die schwächeren EWU-Mitglieder ab, die auf ihre Anleihen

höhere Zinsen zahlen müssen. Damit ist nicht nur die Rückzahlung ihrer Schulden

gefährdet, sondern auch die Einheit der Eurozone. Dies ist indes ein ganz neues "Ritual", das mit zahlreichen Unwägbarkeiten verbunden

ist."

Massnahmen gegen diese Entwicklung

"Anleger könnten

vor dem Hintergrund der unsicheren Entwicklung im Euroraum eine Rückführung des

Risikoprofils ihrer Portfolios ins Auge fassen. Das gilt nicht nur für Anleihen,

sondern auch für Aktien. Wir sind nach wie vor der Auffassung, dass ein ganz

allmählicher Übergang von teuren Zyklikern (wie Industrie- und

Einzelhandelswerten) zu Qualitätsaktien mit defensiven Merkmalen ein kluger

Schritt wäre. In Europa setzen wir auf Aktientitel mit einem hohen Anteil an

ausländischen (nicht in Euro denominierten) Umsatzerlösen in Bereichen wie

Lebensmittel/Getränke, Erdöl, Pharma und Technologie." (cl)

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