Türkei: Im Auge des Sturms – Rezession möglich

Maarten-Jan Bakkum, Senior Stratege Emerging Markets bei ING Investment Management
Maarten-Jan Bakkum, Senior Stratege Emerging Markets bei ING Investment Management

Die Türkei vereint all jene wirtschaftlichen und politischen Probleme und Schwächen auf sich, die in den letzten paar Jahren zum unterdurchschnittlichen Abschneiden von Schwellenländerwerten geführt haben. Damit ist das Land am Bosporus ein Paradebeispiel für all das, was in der aufstrebenden Welt falsch gelaufen ist. Maarten-Jan Bakkum, Senior Stratege Emerging Markets bei ING Investment Management, skizziert in seinem aktuellen Kommentar die fünf grössten Probleme.

24.03.2014, 13:32 Uhr

Redaktion: jf

Erstens: Das Wirtschaftswachstum ist überwiegend kreditgetrieben. Im Durchschnitt lag das Kreditwachstum in den vergangenen zehn Jahren bei 40 Prozent. Wenn es auch inzwischen gesunken ist, so übersteigt es immer noch 30 Prozent. Mit einem Anstieg der Inlandsverschuldung im Verhältnis zum BIP um 25 Prozentpunkte seit der Krise von 2008 zählt die Türkei zu den Ländern mit den höchsten Zuwachsraten bei der Verschuldung. Nur China, Malaysia und Thailand stehen schlechter da.

Zweitens:
Hohe Kapitalzuflüsse beschleunigten das exzessive Kreditwachstum. Je mehr die Zentralbanken in den entwickelten Ländern ihre Geldpolitik lockerten und schliesslich sogar zu einer quantitativen Lockerung übergingen, desto stärker war die Türkei auf ausländisches Kapital angewiesen. Die Loan-to-Deposit-Ratio kletterte von 73 Prozent im Jahr 2007 auf 120 Prozent in 2013. Das lag in erster Linie daran, dass die Banken die dramatische Ausweitung ihres Kreditgeschäfts nicht über das inländische Sparvermögen, sondern durch Auslandsverschuldung finanzierten. Hinzu kommt, dass die Türkei ihr immenses Leistungsbilanzdefizit (9,7 Prozent bei seinem Höchststand im zweiten Halbjahr 2011) jahrelang über ausländische Kapitalzuflüsse finanzieren konnte.

Drittens führten das hohe kreditgetriebene Wachstum und die bequemen Kapitalzuflüsse aus dem Ausland zu einer dramatischen Verschärfung der volkswirtschaftlichen Ungleichgewichte. Dabei stechen vor allem das Leistungsbilanzdefizit und die Inflationsrate hervor, die in den letzten zehn Jahren bei durchschnittlich 6 bzw. 8 Prozent lagen. Zudem fiel die Arbeitslosenquote auch in den Boomjahren nie unter 8 Prozent. Das deutet auf eine hohe strukturelle Arbeitslosigkeit hin, die geradezu nach entschlossenen politischen Massnahmen schreit.

Viertens kann die Geldpolitik der Türkei als missglückt beschrieben werden. Die Zentralbank hat Mühe, mit der Entwicklung mitzuhalten; bereits seit Jahren verfehlt sie ihr Inflationsziel. Derzeit hofft man, den Zielwert von 5 Prozent bis Ende 2015 zu erreichen. Im Januar sah sich die Zentralbank zu einer Anhebung der Zinsen gezwungen, um einen Zusammenbruch der Währung zu verhindern, doch zwei Monate später beträgt das Kreditwachstum immer noch 30 Prozent und die Inflation 8 Prozent. Gleichwohl gewannen wir bei unseren Gesprächen mit Zentralbankvertretern in Ankara den Eindruck, dass das Direktorium bereits mit dem Gedanken an eine Zinssenkung spielt. Nach Aussagen der Zentralbankvertreter sei die Zinsanhebung im Januar „frontloaded“ gewesen, was möglicherweise als vorgezogene Massnahme zu verstehen ist.

Gleichzeitig leidet die Türkei unter dem Mangel an Reformen auf der Angebotsseite. Die Ungleichgewichte im Land lassen sich nicht allein durch das weltweite Liquiditätsumfeld erklären, es kommen hier auch grundlegende strukturelle Faktoren ins Spiel. Auf die hohe Arbeitslosigkeit, die im Wege einer Arbeitsmarktreform anzugehen ist, haben wir bereits hingewiesen. Aber auch Inflation und Leistungsbilanzdefizit sind strukturbedingt hoch. Grund sind die hohe Konzentration von Unternehmenseigentum bzw. die starke Abhängigkeit von Energieimporten. Die Oligopole müssen aufgebrochen werden, um den Wettbewerb zu steigern und die Inflation zu senken. Seit Jahren hat die türkische Regierung keine bedeutsamen Mikroreformen mehr durchgeführt. Entschlossener ist sie hingegen dabei vorgegangen, die Abhängigkeit der Türkei von Energieimporten zu verringern. Doch es wird noch viele Jahre dauern, bevor die Investitionen in Wasserkraft und Kernenergie die Importkosten senken.

Insgesamt hat sich die regierende AKP in punkto Reformen nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Offenbar fehlt es der Regierung an einem Sinn für die Dringlichkeit von Reformen – trotz des jüngsten Marktdrucks und der 25%igen Abwertung der Lira. In der Tat liess Premierminister Erdogan bei verschiedenen Gelegenheiten durchblicken, dass er wenig Bedarf für Wirtschaftsreformen sieht.

Und fünftens ist das politische Risiko gestiegen. Elf Jahre lang AKP hat zu einer Machtkonzentration geführt. Armee, Justiz und parlamentarische Opposition wurden an den Rand gedrängt. Dadurch hat sich nicht nur die Polarisierung im politischen System, sondern auch in der türkischen Gesellschaft verstärkt. Die autokratische Führung Erdogans, die zunehmenden Hinweise auf die Selbstbereicherung der AKP-Führung, zahlreiche Korruptionsskandale und die kontinuierliche Aushöhlung bürgerlicher Freiheiten haben zu wachsendem Unmut in der Bevölkerung geführt. In den Grossstädten der Türkei kommt es immer wieder zu blutigen Zusammenstössen zwischen Demonstranten und Ordnungskräften. In diesem Umfeld ist ein entschlossenes Handeln der Politiker, um die immensen Wirtschaftsprobleme anzugehen, kaum mehr zu erwarten.
Wie geht es angesichts dieser fünf Problembereiche also mit der türkischen Wirtschaft weiter? Nach unserem Dafürhalten wird das Land eine Rezession kaum vermeiden können. Der Kapitalstrom in die aufstrebende Welt wird fürs Erste wohl negativ bleiben. Grund sind das anhaltende Schwächeln ihrer Volkswirtschaften, die Ausfallrisiken und die Störungen im Finanzsystem infolge des Schuldenabbaus. Zudem dürfte der Prozess der geldpolitischen Normalisierung in den USA anhalten. Vor diesem Hintergrund kann die Türkei sich nicht darauf verlassen, dass der Kapitalzustrom aus dem Ausland, der ihr Leistungsbilanzdefizit und ihren Kreditboom finanziert hat, anhält. Bislang ist der Nettokapitalzufluss immer noch recht kräftig.

Das Kreditwachstum muss erst noch auf ein einstelliges Niveau fallen und unter die Rate des nominalen BIP-Wachstums, damit der notwendige Deleveraging-Prozess einsetzen kann. Das bedeutet, dass die Finanzierungsbedingungen für eine gewisse Zeit angespannt sein werden. Hoch verschuldete Unternehmen werden dabei wahrscheinlich unter Druck geraten. Ausfälle waren bisher selten, doch das mag sich ändern. Für die Banken bedeutet das, dass sie eine höhere Risikovorsorge bilden müssen. Im Zusammenspiel mit dem Versiegen ausländischer Finanzquellen wird dies den Spielraum für einen weiteren Anstieg des Kreditwachstums deutlich einengen. Insgesamt ist ein Konjunktureinbruch wohl kaum zu vermeiden.

Wir halten es für wahrscheinlich, dass die türkische Wirtschaft bald in eine Rezession rutschen wird. Diese Einschätzung gründet sich darauf, dass das türkische BIP-Wachstum in den letzten paar Jahren vor allem kreditgetrieben war, der Exportsektor nur 28 Prozent des BIP ausmacht und hartnäckige strukturelle Wachstumshindernisse bestehen. Wir rechnen damit, dass es dieses Jahr zwischen dem zweiten und vierten Quartal zu einer negativen Wachstumsentwicklung kommen wird. Unsere Wachstumsprognose für das Gesamtjahr 2014 lautet 0,5 Prozent. Die Konsenserwartung liegt hingegen bei 2,5 Prozent.

Dieses Szenario geht von einer sanften Landung aus, bei der das Banksystem zu einer Verlangsamung des Kreditwachstums gezwungen sein wird, wie die Banken in allen anderen Emerging Markets auch. Die Risiken für dieses Szenario bestehen in einem unerwartet steilen Anstieg der Zahlungsausfälle, zunehmendem Druck auf die Banken und wachsenden Marktsorgen im Hinblick auf die Fähigkeit der Banken, die Krise zu bewältigen.
Die Lira ist vor einem solchen Hintergrund jedenfalls verwundbar. Eine noch schwächere Lira erhöht das Risiko für jene Bereiche der Wirtschaft, die sich in den vergangenen Jahren erheblich im Ausland verschuldet haben. Hier sei vor allem die Bauindustrie genannt. Überdies kann auch eine Verschärfung der politischen Probleme die Lira weiter drücken. Am 30. März stehen Lokalwahlen an. Sollte die AKP landesweit auf weniger als 40 Prozent der Stimmen kommen bzw. Niederlagen in Istanbul oder Ankara erleben, so würde dies neue Unwägbarkeiten und möglicherweise neue Protestwellen auslösen. Die Märkte würden beginnen, eine politische Lage einzupreisen, bei der die AKP nicht mehr über die absolute Mehrheit verfügt.

Wegen des hohen politischen Risikos, der Aussicht auf eine Rezession und des wahrscheinlich steigenden Drucks auf das Bankensystem sehen wir deutliche Abwärtsrisiken für türkische Assets. Doch im Vergleich zu anderen schwachen und gefährdeten Emerging Markets hat in der Türkei bereits ein Korrekturprozess eingesetzt. Das zeigt sich vor allem an der Lira. Während EM-Währungen seit der Krise von 2008 im Durchschnitt preisbereinigt um 6 Prozent nachgelassen haben, hat die türkische Lira im selben Zeitraum 30 Prozent ihres Werts verloren.

Auch der Aktienmarkt hat die schlechten Nachrichten bereits in grösserem Umfang eingepreist als andere Emerging Markets. Im Verhältnis zu den globalen Emerging Markets (GEM) haben sich türkische Aktienwerte auf US-Dollar-Basis wieder auf den Niveaus der Jahre 2011 bzw. 2008 eingependelt. Zum Teil sind die Werte sogar wieder auf das Niveau von 2003 gefallen. Das bedeutet, dass der gesamte EM-Boom an türkischen Aktien praktisch vorbeigegangen ist Und es könnte sogar noch schlimmer kommen. Klar ist allerdings, dass die Türkei das EM-Risiko in konzentrierter Form verkörpert. Es fällt Investoren daher leichter, die mit der Türkei verbundenen Risiken zu erkennen und einzupreisen, als dies bei anderen Emerging Markets mit ähnlichen Problemen und Schwächen der Fall ist.

Fazit
Die dramatische Preiskorrektur bei türkischen Assets in den vergangenen zehn Monaten spiegelt die hohe Verwundbarkeit der türkischen Wirtschaft im aktuellen weltwirtschaftlichen Umfeld wider. Insbesondere das wachsende politische Risiko macht Anlegern Sorge. Während die türkische Wirtschaft sich einem schmerzhaften Schuldenabbau unterziehen muss, muss das Land als Ganzes einen Weg finden, die Jahre autokratischer Herrschaft und gesellschaftlicher Polarisierung abzuschütteln.

Die Türkei ist hier kein Ausnahmefall. Eine wachsende Zahl aufstrebender Volkswirtschaften sieht sich ähnlichen Problemen gegenüber. Wachsende politische Risiken sind nicht nur ein Indiz für schwache Wirtschaftsleistung und steigenden Druck auf das Finanzsystem, sondern auch die Folge.

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