Technologie bleibt ein zentraler geopolitischer Brennpunkt

Robotik erobert immer mehr Produktionsbereiche. (Bild: Shutterstock.com/Gorodenkoff)
Robotik erobert immer mehr Produktionsbereiche. (Bild: Shutterstock.com/Gorodenkoff)

Corona hat den ohnehin rasanten technologischen Fortschritt noch mehr beschleunigt. Vieles deutet darauf hin, dass bei Telemedizin, Halbleitern, Robotik und Quanteninformatik das Disruptionspotenzial gross ist. Kim Catechis von Martin Currie erläutert die Hintergründe.

20.01.2021, 19:25 Uhr

Redaktion: rem

Im kommenden Jahrzehnt dürfte es zusehends Bemühungen zur Entflechtung der beiden weltgrössten Volkswirtschaften geben. Technologie ist bei diesem Ringen ein zentrales Thema. China wird mit verstärkten Bemühungen reagieren, seine Abhängigkeit von westlicher Technologie zu verringern. Gleichzeitig werden die USA ihren gegenwärtig aggressiven Kurs wohl nicht ändern. "2021 wird nach unserer Auffassung den folgenden Technologiebereichen eine zentrale Rolle in diesem globalen Machtkampf zufallen", sagt Kim Catechis, Head of Investment Strategy bei Martin Currie.

Halbleiter – der unterschätzte Schlüssel

Die weltweite Elektronikbranche hatte 2018 ein Volumen von 5,2 Bio USD. Führend waren China, die USA und Japan. Die Branche sei für nahezu jeden Sektor der Wirtschaft unverzichtbar und habe daher eine strategische Bedeutung, so Catechis. Ungünstigerweise sei sie vollkommen von Halbleitern abhängig, einer unterschätzten, doch zentralen Komponente, deren Markt 2019 weltweit ein Volumen von 412 Mrd. USD hatte. Einer der Gründe, warum die Halbleiter-Lieferkette in den vergangenen 20 Jahren so gut funktionierte, liege darin, dass sie sich nach zahlreichen Anläufen in klar definierte Arbeitsbereiche und spezialisierte Unternehmen aufgeteilt hat. Die Vorteile niedrigerer Kosten und schnellerer Entwicklung verteilten sich über die gesamte Kette, viele Länder und Zeitzonen. Dies führe zu hoher Qualität und wettbewerbsfähigen Preisen für die Verbraucher.

"Eine der zentralen Voraussetzungen für eine derartige Lieferkette ist natürlich die Kombination aus Freihandel und Vereinigungsfreiheit, also der Freiheit, mit jedem Unternehmen irgendwo auf der Welt Verträge schliessen zu können. Dies endet gerade, denn geopolitische Ziele sind zusehends ein Anlass für Einmischung und Behinderung", sagt der Investmentstratege. Infolge dieser Spezialisierung gebe es Stufen in der Lieferkette, in denen einzelne Unternehmen eine unverhältnismässige Vormachtstellung haben. "Dies schafft Engpässe, die den Regierungen rund um den Globus bestens bekannt sind, und wir haben sowohl seitens der USA als auch Japans Massnahmen beobachtet, um den Zugang zu bestimmten Bestandteilen der Lieferkette aus geopolitischen Erwägungen zu blockieren", fügt er hinzu.

Die wichtigsten Akteure in der Halbleiter-Lieferkette sitzen in den USA, Südkorea, Japan, Taiwan, der Europäischen Union und seit kurzem China. Durch die US-Massnahmen, mit denen chinesischen Unternehmen der Zugang zu geistigem Eigentum der USA versperrt werden soll, werde die Branchenstruktur demontiert. "Der Aktionärswert erleidet Schaden, und sowohl Geschäftsleitungen als auch Anleger müssen alles überdenken, um im Zuge dieser Entwicklungen alternative Wege zu finden", gibt Catechis zu bedenken.

Robotik

Der weltweite Umsatz am Robotik-Markt betrug 2019 nach Angaben der International Federation of Robotics (IRF) 50 Mrd. USD, einschliesslich Robotersystemen, Software und Peripheriegeräten. Im Jahr 2019 verteilte sich der operative Bestand der 2,7 Millionen Industrieroboter weltweit zu 62% auf Asien, 21% auf Europa und 17% auf Amerika.

Angesichts des Ausmasses der wirtschaftlichen Entkopplung zwischen China und den USA, die sich nach Meinung des Experten auch 2021 fortsetzen wird, werden erhebliche Investitionen in die Neuorganisation von Lieferketten erforderlich sein, denn die Fertigung werde von China in andere asiatische Staaten oder sogar zurück in die USA verlegt werden. Im Zuge dieses Prozesses werde es unvermeidlich zu einer radikalen Übernahme von Automationstechnologie in allen Branchen kommen müssen. Dies führe zu einer grossen Disruption der Arbeitsmärkte, denn es entfalten sich in vielen Branchen Kosten- und Effizienzvorteile.

Wie Catechis weiter ausführt, haben im kommenden Jahrzehnt Länder mit alternder Bevölkerung (Japan, China, Deutschland, Italien, Polen und Tschechische Republik) mit der Schrumpfung ihrer Erwerbsbevölkerung eine Chance zur Beschleunigung dieses Prozesses. Länder mit "mittelalten» Bevölkerungen (Vereinigtes Königreich, USA, Australien, Kanada) müssen die Übernahme dieser Technologien mit Umschulungen und sozialen Wohlfahrtsprogrammen behutsam steuern, um soziale Unruhen nach Möglichkeit zu vermeiden. Am stärksten betroffen sind seiner Ansicht nach Länder mit junger, schlechter ausgebildeter Bevölkerung und schwachen staatlichen Kapazitäten. Bangladesch, Pakistan und Indien erscheinen am stärksten gefährdet, doch auch Indonesien, Brasilien und Mexiko sind für die Herausforderung nicht gut gerüstet. Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) schätzt, dass in den fünf ASEAN-Staaten Kambodscha, Indonesien, Philippinen, Thailand und Vietnam 56% der Arbeitsplätze durch Automation stark gefährdet sind.

Medizintechnik

Der weltweite Markt für Telemedizin wird laut Statista für 2019 auf ein Volumen von 45,5 Mrd. USD geschätzt. Bis 2026 wird nahezu mit einer Vervierfachung auf 175 Mrd. USD gerechnet. Die Grenzen zwischen Medizin und Technologie verschwimmen. Bei dem aktuellen geopolitischen Ringen stehen Gesundheit und Medizintechnologie im Zentrum des Geschehens. "Covid-19 wirkt nur wie ein Brennglas, denn das erste Land, das einen sicheren und wirksamen Impfstoff entwickelt hat, wird seine diplomatische Stellung verbessern und in der Lage sein, die Fähigkeit anderer Länder, die Pandemie zu bewältigen, zu beeinflussen. Daher rühren auch die offensichtlichen Versuche, wissenschaftliche Forschungsinstitute und bekannte Unternehmen zu hacken", sagt Catechis.

Die Technologie, die die Kommunikation ermöglicht, gibt es bereits. Doch sie wird vermutlich aufgrund von Trägheit und vermeintlichen Grenzen der Datensammlung ausser für einfache Konsultationen nach wie vor bei weitem nicht voll genutzt. Die Datensammlung ist jedoch kein Problem. Viele routinemässig genutzte Armbänder messen Blutdruck und Herzschlag, um nach Arrhythmien zu suchen. Manche messen zur Erkennung von Anämie die Hämoglobin-Werte. Insbesondere sind die Patienten gegenüber einer möglichen Verletzung des Schutzes ihrer Patientenakten äusserst empfindlich. Gleich, ob es eine Erkrankung oder ein medizinisches Verfahren anbelangt, wünschen sich die meisten Menschen Datenschutz. Das bedeute, so Catechis, dass Cybersicherheit 2021 und in den Jahren danach als Instrument zum Vertrauensaufbau in der Telemedizin äusserst wichtig werden dürfte.

Quanteninformatik

Der Markt für Quanteninformatik in Unternehmen ist nach Branchen nach wie vor sehr klein, doch die Breite der Anwendung ist beeindruckend: Biowissenschaften, Automobilindustrie, verarbeitendes Gewerbe, Bauingenieurwesen sowie Öl & Gas sind laut Statista bisher die stärksten Nutzer. Nach einhelliger Auffassung im Sektor beschleunigt sich die Übernahme in Bereichen wie Werkstoffwissenschaft, Chemie, Pharma und Arzneimitteln, wo sie zuerst in der Arzneimittellieferung und nicht in ihrer Entwicklung implementiert werden wird. "Einer der Haupttreiber ist Optimierung. Der andere liegt in der Verarbeitung natürlicher Sprachen", wie Catechis erklärt. Per März 2019 überflügelte laut Statista China hinsichtlich der staatlichen Forschungsausgaben im Bereich Quanteninformatik alle anderen Länder.

Staatliche Ausgaben / Investitionen für QI-Technologie

Weltweit per März 2019. Quelle: Statista, verschiedene Quellen
Weltweit per März 2019. Quelle: Statista, verschiedene Quellen

Westliche Nachrichtendienste sind sehr besorgt über das ausdrückliche Bekenntnis Chinas, auf diesem Gebiet die führende Position erlangen zu wollen. China, so die Einschätzung, verfolge eine zivil-militärische Partnerschaft in Innovation, Forschung und Entwicklung, und die chinesischen Streitkräfte seien überzeugt, dass der nächste Krieg durch die Nutzung technologischer Fortschritte auch in "experimentellen» Gebieten gewonnen werde. "Gelingt dies, wird die Führerschaft in der Quantentechnologie China bei offensiven geheimdienstlichen Operationen und bei Verschlüsselung einen Vorteil verschaffen. Die daraus resultierenden modernen Waffensysteme werden die geopolitischen und militärischen Optionen Chinas vergrössern und den Westen bedrohen. Diese Angst garantiert künftig einen verstärkten Fokus der Regierungen und rückt diesen Bereich 2021 in den Blickpunkt", meint Catechis.

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