14.04.2023, 09:59 Uhr
«Sind niedrigere Staatsschulden, positive Realzinsen und die Finanzierung der Energiewende miteinander vereinbar?», fragt sich Niall O’Sullivan, Chief Investment Officer, Multi Asset Strategies – EMEA bei...
Top-down- und Bottom-up-Prognosen weichen immer stärker voneinander ab. 2023 wird es entscheidend sein, wie man damit umgeht, schreibt Erik Knutzen, Chief Investment Officer – Multi-Asset Class bei Neuberger Berman Asset Management.
«Bei Aktien sind wir sehr zurückhaltend. Interessanter scheinen uns Assetklassen, die nicht mit dem Aktienmarkt korreliert sind. Ausserdem legen wir grossen Wert auf laufenden Ertrag. Der Spatz in der Hand ist besser als die Taube auf dem Dach», heisst es im aktuellen CIO Weekly.
Oberflächlich betrachtet mag dies wie eine einfache, rationale Reaktion auf ein unsicheres Umfeld erscheinen. Bei näherer Betrachtung sind diese Ansichten jedoch entscheidender als das: «Wir sehen sie als Antwort auf die ungewöhnliche Natur der gegenwärtigen Ungewissheit, bei der sich das Bild insgesamt trübt, weil einige Teile des Bildes klarer werden. Aber was genau wird klarer? Volkswirte und Marktstrategen sind sich zunehmend einig, dass Wirtschaftswachstum und Inflation 2023 nachlassen. Wenn sich die Geschichte wiederholt, verspricht das für Aktien, Credits und Rohstoffe nichts Gutes.»
Fragt man aber Analysten, die für diese Märkte Einzelwertprognosen erstellen, erhält man oft ganz andere Antworten. Die Makroprognosen weichen also immer stärker von den Einzelwerteinschätzungen ab. «Wir glauben, dass die Anlageergebnisse 2023 weitgehend davon abhängen, wie man damit umgeht», schreibt Knutzen.
Am auffälligsten scheinen die Unterschiede bei Aktien. Top-down-Analysten meinen oft, dass nachlassendes Wachstum und nachlassende Inflation den Unternehmensgewinnen nur schaden können. Die meisten Einzelwertanalysten haben ihre Prognosen für 2023 bisher aber kaum geändert. Nach wie vor beträgt die Konsens-Gewinnprognose für den S&P 500 Index 230 US-Dollar je Aktie, 5% mehr als im Vorjahr. Die meisten Wall-Street-Volkswirte erwarten in den USA dieses Jahr aber eine Rezession, und nach der jüngsten Prognose des Internationalen Währungsfonds (IWF) wird die Weltwirtschaft 2023 nur um 2,7% wachsen. Ein Drittel der Weltwirtschaft würde dann schrumpfen.
Kaum anders ist es bei Credits. In Rezessionen ist die Ausfallquote amerikanischer High-Yield-Anleihen bislang meist um mindestens 10% gestiegen. Aber auch hier halten die Einzelwertanalysten einen Anstieg über den Langfristdurchschnitt von 3% im neuen Jahr für unwahrscheinlich – weil sie für die Unternehmensfinanzen trotz allem vergleichsweise optimistisch sind.
Bei Rohstoffen verweisen die Top-down-Analysten nach dem starken Anstieg 2022 ebenfalls auf das schwächere Wachstum und die niedrigere Inflation – und auf die allgegenwärtige Mean Reversion, um für 2023 Verluste zu prognostizieren. Rohstoffanalysten sehen hingegen das anhaltende Missverhältnis zwischen Angebot und Nachfrage. Sie begründen das mit den Terminkurven. Die Rollrenditen sind positiv, und die Märkte befinden sich in der Backwardation, sodass bald fällige Kontrakte teurer sind als länger laufende. All das spricht aus ihrer Sicht weiterhin für hohe Rohstoffpreise und höhere Erträge der Assetklasse.
Wie lässt sich dieser Konflikt zwischen Makro- und Mikroeinschätzungen lösen? «Wir meinen, dass es auf die Assetklasse ankommt. Bei Aktien schliessen wir uns im Wesentlichen den Top-down-Prognosen an.»
Die hohe Inflation lässt die Umsätze der Unternehmen steigen, und höhere Kosten werden meist an die Kunden weitergegeben. Weniger Wachstum und nachlassende Inflation dürften aber nicht nur den Umsätzen schaden, sondern auch die Absatzpreise massiv dämpfen. «Ausserdem rechnen wir mit hohen Abschreibungen auf Außenstände, die so hoch sind wie seit Jahrzehnten nicht mehr.» Bei den Gewinnen der S&P-500-Unternehmen scheint 2023 vieles möglich, von 200 bis 210 US-Dollar je Aktie oder noch weniger. Aber einen Anstieg auf 230 US-Dollar halten wir für unwahrscheinlich, heisst es weiter.
«Bei Credits schliessen wir uns eher der Bottom-up-Sicht an». Wegen ihrer guten Fundamentaldaten können die Unternehmen in den nächsten zwölf Monaten niedrigere Gewinne verkraften. Jahrelang haben sie die niedrigen Zinsen genutzt, um sich kostengünstig langfristig zu refinanzieren. Der Zinsanstieg 2022 kann ihnen nicht viel anhaben, da Refinanzierungen erst wieder 2024, 2025 oder noch später nötig sind. «Die Credit Spreads könnten sich 2023 zwar ausweiten, doch rechnen wir ohne eine unerwartet starke Rezession dieses Jahr nicht mit drastisch höheren Ausfallquoten.»
Auch bei Rohstoffen folgt Neuberger Berman den Bottom-up-Analysten. Die Nachfrage nach vielen Rohstoffen könnte 2023 durchaus fallen. In Europa und Nordamerika endet der Winter, Energie und landwirtschaftliche Rohstoffe aus Russland und der Ukraine sind nicht mehr alternativlos, und die Weltkonjunktur lässt nach. Die Angebotsprobleme dürften aber nicht verschwinden, weder kurzfristig (wegen des andauernden Kriegs in der Ukraine) noch strukturell (wegen chronischer Unterinvestitionen, der Deglobalisierung der Lieferketten, der Dekarbonisierung der Weltwirtschaft, wachsender internationaler Spannungen, Protektionismus und verstärkter Vorratshaltung). Und wenn China seine Volkswirtschaft in der ersten Jahreshälfte 2023 mit Macht wieder öffnet, wird auch dies die Rohstoffpreise steigen lassen.
Der neue Asset Allocation Committee Outlook sei aber mehr als «eine Mahnung zur Vorsicht aufgrund unterschiedlicher Makro- und Mikroprognosen». «Unsere Einschätzungen bilden die zurzeit massgeblichen Zusammenhänge zwischen Marktstimmung und Fundamentaldaten sowie konjunkturellen und strukturellen Faktoren ab. Sie können bisweilen komplex sein.
Wir meinen, dass weder Top-down- noch Bottom-up-Analysen allein dies vollständig erfassen können. Man braucht beides. Das macht die Lage zwar unübersichtlich, aber Unübersichtlichkeit ist immer noch besser als Unvollständigkeit.»