Staatsanleihen weichen erneut von der Entwicklung der Aktienmärkte ab

Marc-Antoine Collard, Chefökonom bei Rothschild & Co Asset Management
Marc-Antoine Collard, Chefökonom bei Rothschild & Co Asset Management

Die Risikobewertung für globale Aussichten blieb schon vor dem Ausbruch des Coronavirus negativ. Anders als von den meisten Marktteilnehmern erhofft, dürfte das Wachstum im Jahr 2020 nah am Niveau von 2019 bleiben, dem niedrigsten in einem Jahrzehnt, erwartet Marc-Antoine Collard von Rothschild & Co Asset Management.

18.02.2020, 11:08 Uhr

Redaktion: rem

Das Mitte Januar unterzeichnete Handelsabkommen zwischen den USA und China, die schwindende Angst vor einem "No-deal-Brexit" und eine akkommodierende Geldpolitik haben die positive Stimmung der Aktieninvestoren beflügelt. "Unterstützt durch die ersten Anzeichen einer Stabilisierung der Konjunktur scheinen die Aktieninvestoren davon überzeugt zu sein, dass das weltweite Wachstum im Jahr 2020 wieder merklich anziehen wird", meint Marc-Antoine Collard, Chefökonom bei Rothschild & Co Asset Management. Die Stabilität des Dienstleistungssektors hat sich fortgesetzt, unterstützt durch niedrige Arbeitslosenquoten und einen – wenn auch bescheidenen – Anstieg der Gehälter. Der Markit-Index des Geschäftsvertrauens im verarbeitenden Gewerbe blieb einen dritten Monat leicht über der 50er-Marke.

Unrealistische Ziele

Das produzierende Gewerbe scheine eher verunsichert zu sein und den überwältigenden Optimismus der Investoren nicht zu teilen. Vielmehr werde dort die Machbarkeit von Phase 1 in Frage gestellt, so Collard. Kern dieses chinesisch-amerikanischen Abkommens ist eine Zusage Chinas, in den nächsten zwei Jahren zusätzliche US-Importe im Wert von 200 Mrd. USD einzuführen, was bei Erfüllung fast einer Verdoppelung gleichkäme. Die Ziele erscheinen jedoch eher unrealistisch – nicht nur wegen der beträchtlichen Steigerung, sondern auch, weil die chinesische Binnennachfrage nachlässt, was die Importe belasten wird. Das Abkommen sieht auch ein bislang beispielloses Streitschlichtungsverfahren vor, das ohne Vermittler durch Dritte auskommt, anders als sonst bei solchen Abkommen. Wenn dann die Trump-Regierung glaubt, dass China eine Verpflichtung nicht eingehalten hat, setzt eine Gegenmassnahme ein, die zwar verhältnismässig ist, aber einseitig von den USA bestimmt wird.

Darüber hinaus wird dieser "Managed Trade"-Ansatz wahrscheinlich Probleme schaffen und den Welthandel eher stören als fördern. So könnte China in dem Bestreben, seine Ziele zu erreichen, gezwungen sein, mehr amerikanische Autos zu kaufen (der Marktanteil liegt bei ca. 25%), indem es die Importe aus der EU (ca. 50% Marktanteil) oder Japan (ca. 20% Marktanteil) reduziert. In der Folge könnten die EU oder Japan der WTO einen Verstoss melden. "In einem solchen Rechtsstreit würde China höchstwahrscheinlich mit dem Vorwurf konfrontiert, das Meistbegünstigungsprinzip der nichtdiskriminierenden Behandlung von Importen verletzt zu haben", folgert der Chefökonom.

Bedingungen für Handelsabkommen noch offen

Nach seiner Einschätzung scheinen die Investoren wie bei Phase 1 zu glauben, dass auch die Verhandlungen zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU nur zu einem positiven Ergebnis führen können. Die beiden Parteien haben bis Ende 2020 Zeit, die Bedingungen für ihre künftigen Geschäftsbeziehungen festzulegen – es sei denn, Grossbritannien beantragt bis zum 1. Juli eine Verlängerung. Michel Barnier, der Chefunterhändler der EU bekräftigte, dass ein weitreichendes Handelsabkommen angeboten wird, das allerdings das Vereinigte Königreich dazu verpflichtet, sich eng an den EU-Vorschriften zu orientieren. Premierminister Johnson versicherte seinerseits, dass Grossbritannien die EU nicht verlässt, um europäische Standards zu untergraben, und dass das Land unabhängig von der Gestaltung des endgültigen Handelsabkommens gedeihen werde. Sollte Johnson weiterhin ein ambitioniertes Handelsabkommen anstreben, haben viele Mitglieder seiner Partei ihre Präferenz für einen Ausstieg ohne Vereinbarung geäussert – was die frühere Regierung unter Theresa May immer vermeiden wollte – für den Fall, dass die EU sich weigert, einen Teil ihrer Forderungen zu verwerfen.

Wirtschaftswachstum weiterhin niedrig

Auch wenn laut Collard Unternehmensumfragen und andere weiche Daten die erhöhten Erwartungen der Investoren teilweise erklären können, zeigen doch die globalen makroökonomischen Statistiken vorerst keinen klaren Wendepunkt in der Realwirtschaft, wobei das überzeugendste Beispiel in der Eurozone zu finden sei: Gemäss einer Mitte Januar veröffentlichten Blitzschätzung ist das Wirtschaftswachstum im 4. Quartal 2019 weiter ins Stocken geraten, wobei das BIP (0,1% q/q) das schwächste Tempo seit 2013 aufweist. Besonders schwach war die Dynamik in Frankreich (-0,1%) und Italien (-0,3%), während Spanien (0,5%) erneut der Haupttreiber war. Darüber hinaus deuten die jüngsten Daten darauf hin, dass die Blitzschätzung nach unten revidiert wird, insbesondere aufgrund der enttäuschenden Daten in Deutschland.

Nachfrage- und Angebotsengpass durch Coronavirus

Insgesamt blieb die Risikobewertung für globale Aussichten schon vor dem Ausbruch des Coronavirus negativ. "Anders als von den meisten Marktteilnehmern erhofft, dürfte das Wachstum im Jahr 2020 nah am Niveau von 2019 bleiben, dem niedrigsten in einem Jahrzehnt", erwartet Collard. Die Virusepidemie, von der bisher hauptsächlich China betroffen ist, weist eine niedrigere Sterblichkeitsrate als SARS im Jahr 2003 auf, obwohl sie sich deutlich schneller ausbreitet. Verschiedenen Studien zufolge verursachte SARS einen Nettoverlust an Wirtschaftsaktivität in China, der auf 0,5 bis 1,5 Punkte des BIP geschätzt wird. Seither hat allerdings die Bedeutung des chinesischen Dienstleistungssektors erheblich zugenommen, was die Wirtschaft anfälliger für die aktuellen Schwierigkeiten macht. Darüber hinaus würde ein anhaltender Rückgang des Haushaltskonsums auch die Investitionen belasten, da die Investitionstätigkeiten der chinesischen Unternehmen extrem empfindlich auf die Binnennachfrage reagieren.

"Um die Auswirkungen des aktuellen Ausbruchs auf die Weltwirtschaft zu verstehen, müssen die Wirkmechanismen identifiziert werden: verringerte Warenimporte durch China, Rückgang der Tourismusbesuche chinesischer Staatsangehöriger, Unterbrechungen der Versorgungskette aufgrund des Mangels an in China hergestellten Zwischenprodukten sowie Auswirkungen auf die Finanzmärkte und das Geschäftsvertrauen", erklärt der Chefökonom.

Da sich Chinas Anteil an der Weltwirtschaft in den letzten zwei Jahrzehnten verdreifacht hat, wirkt das Coronavirus gleichzeitig als Nachfrage- und Angebotsengpass. Zusätzlich zur schwächeren chinesischen Importnachfrage kann ein starker Rückgang der Industrietätigkeit des Landes zu erheblichen Störungen auf der Angebotsseite in anderen Ländern führen. Chinas dominierende Stellung im verarbeitenden Gewerbe deutet darauf hin, dass es kurzfristig schwierig sein wird, einen Ersatz für die betroffenen Lieferanten zu finden. Daher wird für das erste Quartal 2020 ein deutlicher Rückgang des Wirtschaftswachstums erwartet, wobei das Ausmass von der Entwicklung der Epidemie abhängen wird. Je länger die derzeitigen Reisebeschränkungen aufrechterhalten werden, desto stärker werden die Auswirkungen auf die Konjunktur sein. "Die Auswirkungen werden wahrscheinlich weder linear noch sektorübergreifend homogen sein", so Collard.

"Zugegebenermassen könnten Konjunkturmassnahmen den Wiederaufschwung erleichtern. Die meisten Investoren sind zu dem Schluss gekommen, dass dies nur eine vorübergehende Beeinträchtigung ist, und erwarten ein V-förmiges Wachstumsmuster für das erste Halbjahr 2020. Allerdings bleibt die Unsicherheit in einem Umfeld, in dem die Weltwirtschaft bereits schwächelte, nicht allzu weit entfernt von der Abwärtsbewegung… was den Renditen von Staatsanleihen nicht gut tat, die ihren Abwärtstrend fortsetzen und erneut von der Entwicklung der Aktienmärkte abweichen", schliesst der Chefökonom seine Einschätzung.

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