Kommt es bei Aktien überhaupt noch auf die Gewinne an?

Ad van Tiggelen, Senior Investment Specialist, Investment Content Management bei ING Investment Management, Den Haag
Ad van Tiggelen, Senior Investment Specialist, Investment Content Management bei ING Investment Management, Den Haag

Weltweit stiegen die Gewinne 2011 um ansehnliche 12 Prozent, während die globalen Aktienmärkte fielen. Umgekehrt erwies sich die Berichtssaison im Januar schwächer als erwartet, und die Anleger strömten auf die Aktienmärkte. Dieser Tage scheint es Investoren nur um Konjunkturdaten, Unterstützung durch Zentralbanken und systemische Risiken zu gehen. Da muss man sich doch fragen: Kommt es überhaupt noch auf die Gewinne an?

28.01.2012, 15:56 Uhr

Redaktion: sek


Die Antwort lautet: Natürlich kommt es darauf an! Auf lange Sicht sind die Gewinne sogar das einzige, auf das es ankommt. Klar ist aber auch, dass die Zeiträume, in denen andere Faktoren die Marktentwicklung bestimmen, immer länger werden. Leider lösen überraschende volkswirtschaftliche Entwicklungen und systemische Faktoren tendenziell dramatischere Stimmungsumschwünge am Markt aus als die Gewinnentwicklung, die normalerweise recht allmählich vor sich geht.

Warum sind die Anleger so sehr auf Makrofragen fixiert, dass Mikrofaktoren übersehen werden?

  • Finanzielle Stabilität: Bei Schuldenniveaus, die weltweit den höchsten Stand aller Zeiten erreicht haben, ist finanzielle Stabilität jetzt ein weitaus grösseres Risiko – und somit Problem – als vorher.
  • Unorthodoxe Geldpolitik: Bei Leitzinssätzen in den Industrieländern von fast null erleben wir eine völlig gewandelte Geldpolitik, die den Markt immer wieder mit ausserordentlich preisgünstiger Liquidität versorgt.
  • Höhere Korrelationen: In einer globalisierten Welt, in der die Zentralbanken ihre Massnahmen stärker aufeinander abstimmen, wird die Reaktion auf diese Massnahmen in allen Asset-Klassen zunehmend berechenbar. Dadurch korrelieren die verschiedenen Anlageformen enger miteinander.
  • Hedge-Fonds: Das in diesem Sektor verwaltete Vermögen ist 2011 auf über 2.000 Milliarden Dollar angeschwollen. Da viele dieser Fonds einen „globalen Makro-Ansatz“ verfolgen, hat sich auch dadurch der Fokus von Mikro auf Makro verschoben.


Diese Faktoren haben in den letzten Jahren erheblich an Einfluss gewonnen und werden vorerst relevant bleiben. Daher ist es sicherlich kein Zufall, dass sich im vergangenen Jahr Phasen, in denen das Risiko im Vordergrund stand, in schneller Folge mit Phasen abwechselten, in denen Risiko Nebensache war. Für die Anlegerschaft drehte sich alles um Makrodaten und Eurokrise. Wenn auch die Ertragsmeldungen 2011 überwiegend positiv überraschten – zahlreiche Unternehmen meldeten Rekordgewinne –, so konnte doch nur der US-Aktienmarkt einen, wenn auch geringen Zuwachs verbuchen. Andere wichtige Regionen verzeichneten hingegen deutliche Verluste, wobei Zykliker und Finanzwerte am stärksten betroffen waren.

In den ersten Januarwochen verkehrte sich dieses Bild völlig. Zwar sind Trendumschwünge im Januar durchaus nicht ungewöhnlich, aber in diesem Jahr waren die Entwicklungen – historisch gesehen – extrem: Die Gewinner von 2011 mussten massive Einbrüche hinnehmen, während die Kurse der letztjährigen Verlierer explodierten. Das hatte allerdings nichts mit Ertragsmeldungen zu tun, sondern wurde ausschliesslich durch positive Makro-Überraschungen und nachlassende systemische Sorgen ausgelöst. Nachdem die EZB erfolgreich ein dreijähriges Refinanzierungsgeschäft ausgeschrieben hatte, legten sich die Sorgen auf Anlegerseite allmählich.

Eurokrise noch weit von Lösung entfernt
Aber dennoch kommt es langfristig weiter auf die Gewinne an. 2012 soll das globale Gewinnwachstum bei annährend null liegen, vorausgesetzt, dass die Rezession in Europa mild ausfällt. Das bedeutet, dass die Märkte auf die Bereitschaft der Anleger angewiesen sind, höhere KGVs zu zahlen. Die gegenwärtigen Bewertungen bieten tatsächlich Raum für eine gewisse Ausweitung der KGVs, vor allem, wenn die systemischen Risiken weiter reduziert werden können und für Anleger so Aussicht auf ein erneutes Gewinnwachstum in 2013 besteht. Doch die Eurokrise ist noch weit von einer Lösung entfernt, auch wenn die EZB-Massnahme die Liquiditätsängste fürs Erste gelindert hat. Und wie viel Spielraum steht für das Gewinnwachstum 2013 eigentlich zur Verfügung, wenn die Gewinnspannen bereits nahezu den höchsten Stand aller Zeiten erreicht haben und in den USA nach den Wahlen mit Sparmassnahmen zu rechnen ist. Sicherlich nicht allzu viel.

Nach unserem Dafürhalten hält die prozyklische Rally an den Aktienmärkten vielleicht noch etwas länger an, wird jedoch nicht trendbestimmend für den Rest des Jahres sein. Gleichwohl könnten Aktien im Laufe des Jahres Anleihen übertreffen, wenn sich das akute Krisengefühl erst einmal gelegt hat und die Anlegerschaft beginnt, die Eurozone als ein „Work in Progress“ zu sehen. In einem solchen Umfeld dürften Investoren, die sich erneut auf Gewinn- und Dividendenwachstum konzentrieren, besonders gut abschneiden.

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