Wenn Politik zum Schaden der Wirtschaft auftrumpft

Jonathan Lemco ist Direktor und leitender Analyst in der Taxable Credit Research Group von Vanguard
Jonathan Lemco ist Direktor und leitender Analyst in der Taxable Credit Research Group von Vanguard

Jonathan Lemco äussert sich über die derzeitige Kreditkrise in Europa, insbesondere über die aktuellen Ereignisse in Italien. Dr. Lemco ist Direktor und leitender Analyst in der Taxable Credit Research Group von Vanguard. Zu seinen Aufgaben gehört die Bewertung des Länderrisikos in Industrie- und Schwellenländern.

22.11.2011, 16:27 Uhr

Redaktion: kab

Wie schätzen Sie die gegenwärtige Lage Italiens sowohl in politischer als auch in wirtschaftlicher Hinsicht ein?
Jonathan Lemco: Obwohl Italien offenbar vorerst eine neue Regierung hat, ist die Situation des Landes aus mehreren Gründen weiterhin unsicher. Zum einen ist die Geschichte Italiens durch kurze Regierungszeiten geprägt. Bevor Silvio Berlusconi Ministerpräsident wurde, hatte Italien durchschnittlich mehr als einen Regierungswechsel pro Jahr seit 1945 erlebt. Es würde mich daher nicht im Geringsten wundern, wenn es nun zu einer Reihe aufeinander folgender kurzfristiger Koalitionsregierungen käme.

Das Grundproblem ist aber natürlich die wachsende Verschuldung Italiens und zudem noch die dramatische Verlangsamung des Wirtschaftswachstums. Solange das Land keine Lösung für seine gravierenden Wachstumsprobleme findet, bleibt es eine problematische Anlage.


Welche Auswirkungen hatte diese Entwicklung auf die Märkte?
Die Unsicherheit, die aufgrund dieser Situation entstanden ist, hat dazu beigetragen, dass die Renditeaufschläge für Staatsanleihen in Europa weiterhin extrem hoch sind. Bis die Probleme in Italien und Griechenland gelöst sind, werden sie auch weiterhin auf diesem Niveau bleiben. Ausserdem gibt die drastisch gesenkte Wachstumsprognose für Italien Anlass zur Sorge. Mit nur 0,5 % liegt die weit unter dem absoluten Minimum von 2 bis 3 %, das zur Wiederherstellung des Vertrauens der Anleger erforderlich wäre. Das zeigt, dass diese Geschichte noch lange nicht ausgestanden ist. Infolgedessen wird Vanguard weiterhin an seiner defensiven Strategie festhalten.


Kamen die aktuellen Ereignisse in Griechenland und Italien angesichts der Komplexität der Probleme in Europa überraschend?
Wir erleben jeden Tag eine neue Überraschung. Wir hatten erwartet, dass der Wechsel an der Spitze der griechischen Regierung viel früher erfolgen würde. Parteipolitik scheint Vorrang vor den Interessen der Finanzwelt im weitesten Sinne zu haben. Dies gilt nicht nur für Europa, sondern auch für die Vereinigten Staaten. Denken Sie an das Beispiel Jefferson County in Alabama. Der Bezirk hat Konkurs angwemeldet, obwohl das vielleicht gar nicht nötig gewesen wäre.

Was halten Sie von der Ernennung von Lukas Papademos zum neuen griechischen Ministerpräsidenten?
Im Allgemeinen halte ich seine Ernennung für eine positive Entwicklung, weil sie Griechenland ein wenig mehr Stabilität bringt. Papademos ist ehemaliger Vizepräsident der Europäischen Zentralbank, er hat am Massachusetts Institute of Technology promoviert und in Harvard gelehrt. Er bringt Fachwissen und einen guten Ruf mit, und ich vermute, dass er deshalb in Wirtschaftskreisen Respekt geniessen wird. Griechenland braucht jetzt grösstmögliche Glaubwürdigkeit. Allerdings hat das Land seine Probleme bei weitem noch nicht überwunden. Wie gesagt, ich bewerte diese Entwicklung als positiv, allerdings mit Zurückhaltung.

Es heisst, Italien sei zu gross für einen Staatsbankrott, aber wegen seiner enormen Verschuldung auch zu gross für eine Rettung. Halten Sie diese Aussage für richtig und - falls ja - welche Möglichkeiten bestehen Ihrer Ansicht nach, den Staatsbankrott Italiens zu verhindern?
Ist Italien zu gross für einen Staatsbankrott und für eine Rettung? Diese Ansicht macht seit einer Weile die Runde.
Je früher wir eine neue Regierung mit klaren Vorstellungen für eine Steuerreform haben, desto besser. Das könnte der Anfang einer langfristigen Erholung sein.

Was bedeutet dies für Berater und Anleger?
In Anbetracht der Unsicherheit raten wir zu einer langfristigen Anlagestrategie und einer breiten Diversifizierung. Ich weiss, dass ich damit die gängige Empfehlung von Vanguard wiederhole, aber unserer Auffassung nach gibt es derzeit keine bessere Strategie, insbesondere wenn noch so viele Unsicherheiten bezüglich der künftigen Wirtschaftsentwicklung in Ländern wie Griechenland und Italien bestehen - ganz zu schweigen von anderen Ländern in der Eurozone.

Die nähere Zukunft ist wohl noch für einige Überraschungen gut.

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